Armes Land – reiche Musik

„Wie Luft zum Atmen“ von Ruth Olshan

Nie war Musik so allgegenwärtig, ja unentrinnbar wie in unseren Tagen. Bei Jugendlichen muss man zum Teil schon von einer Musiksucht sprechen, im öffentlichen Raum von akustischer Verschmutzung durch überall ertönende Werbefanfaren, Klingeltöne, laute MP3-Player usw. Paradox daran ist, dass bei uns alle Musik hören, aber kaum noch jemand welche macht. Die Casting-Shows im Fernsehen täuschen darüber hinweg, dabei sind sie ja kaum mehr als aufwendig inszenierte Karaoke-Wettbewerbe, die im Grunde die Tendenz bestätigen, dass bei uns Musik nur noch konsumiert wird. Darum ist der Gegenentwurf so interessant, den der Dokumentarfilm „Wie Luft zum Atmen“ vorstellt. Die in Moskau geborene, jetzt in Berlin lebende Regisseurin Ruth Olshan hat in Georgien Chöre, Tanzgruppen, Gruppen und einzelne Künstler gefunden, die die Musikkultur ihres Landes bewahren und fortführen. Die Volksmusik dieser Region im Kaukasus ist so reich, vielfältig und einmalig, dass sie von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurde.

Für die Leiterin eines Frauenchors ist der gemeinschaftliche Gesang „wie Luft zum Atmen“, und ein anderer Musiker sagt, „wenn ein Mensch neben Dir singt, musst Du ihn lieben!“ Im Film wirken diese Sätze überhaupt nicht so pathetisch wie hier als isolierte Zitate, denn dort sieht und hört man, wie intensiv und voller Freude die Menschen musizieren und tanzen. Nur einige von ihnen sind professionelle Musiker, die meisten sind Amateure im besten Sinne des Wortes, also Liebhaber der Kunst. Ruth Olshan zeigt sie bei ihren Proben, bei Auftritten, gemeinsamen Ausflügen und manchmal inszeniert sie auch selber kleine Vorstellungen für die Kamera. Dabei bekommt man einen guten Eindruck von der Vielfalt dieser Musik – und davon, dass sie noch von allen Generationen gepflegt wird. Ein Kindertanzensemble probt mit der gleichen Intensität wie die Musiker der Gruppe „The Shin“, die versuchen, die Polyfonie der georgischen Folklore mit modernen Musikstilen wie dem Jazz zu verbinden (und die am 29.10. im Osnabrücker Lutherhaus sowie am 10.11. im Bremer Schlachthof auftreten). Kichernde Mädchen werden plötzlich ganz ernst, wenn sie von ihrer Musik reden und sind dann (vor der Kamera) selber darüber ganz verwundert. Es gibt in dem Film einige solche Momente, in denen den Protagonisten erst während des Gesprächs klar zu werden scheint, welche wichtige und bereichernde Rolle die Musik, in ihren Leben spielt. Und sie gibt ihnen Halt in extrem unsicheren Zeiten. Die meisten von ihnen leben in ärmlichen Plattenbauten und eine Chorsängerin erzählt, dass die Zementfabrik, in der alle in ihrer Familie gearbeitet haben, von heute auf morgen geschlossen wurde. All dies zeigt Olshan eher nebenbei. Ihr Film ist keine Sozialreportage, aber er zeigt die Bedingungen, unter denen solch eine reiche Musikkultur vielleicht gerade in einem so armen Land weiter blühen kann.

Dabei sind der Regisseurin Stimmungen wichtiger als das Erzählen. Ihr scheint es in ihrem Film eher um den Rhythmus als um eine schlüssige Dramaturgie zu gehen, und so wirkt er mit der Zeit etwas statisch, wie eine Aneinanderreihung von jeweils in sich schönen, aber nicht zwingend aufeinander folgenden Musikstücken. Und weil Ruth Olshan sich so auf die Musik konzentriert, scheint ihr ein Schlüsselbild eher aus Versehen in den Film geraten zu sein. Es ist zumindest nur so kurz zu sehen, ganz so als hielte die Regisseurin es eher für nebensächlich oder misslungen. Aber wenn man da einen Männerchor in altehrwürdigen Trachten extra für die Kamera durch die schöne Landschaft spazieren sieht, aber einer der Sänger hinten rechts angeregt in sein Handy redet, zeigt diese Einstellung doch perfekt, wie gefährdet dieses kulturelle Biotop ist. Wilfried Hippen