Der Traum von mehr Demokratie

Nach dem Beispiel Hamburgs setzen Bremer BürgerInnen einen Volksentscheid über neues Wahlrecht durch – gegen die Regierungskoalition aus SPD und CDU. Die will hart bleiben: Mehr Einfluss beim Wählen sei „partizipationsfeindlich“

von ARMIN SIMON
und GERNOT KNÖDLER

Zum ersten Mal seit 60 Jahren haben BürgerInnen in Bremen einen landesweiten Volksentscheid durchgesetzt. Nach Ablauf der dreimonatigen Sammelfrist reichten die Initiatoren des Volksbegehrens „Mehr Demokratie beim Wählen“ gestern die erforderlichen Unterschriften ein. Dass bei aller Euphorie Vorsicht geboten ist, zeigt das Beispiel Hamburgs: Dort setzte das Volk 2004 ein ähnliches Wahlrecht durch. Vor einer Woche hat es die CDU mit ihrer Bürgerschaftsmehrheit kassiert.

Den Bremer Behörden wurden 71.365 Unterschriften vorgelegt, davon 9.153 aus Bremerhaven. 48.175 Unterschriften hätten genügt, um ein Referendum über den Vorschlag zu erzwingen. „Damit sind wir auf der sicheren Seite“, sagte Tim Weber vom Verein Mehr Demokratie. Es sei äußerst unwahrscheinlich, dass ein Drittel der Unterschriften für ungültig erklärt werde.

Ziel des Volksbegehrens, das nun – wahrscheinlich zusammen mit der Bremer Bürgerschaftswahl am 13. Mai 2007 – zum Volksentscheid führt, ist eine Reform des Wahlrechts. Nach dem Vorbild Hamburgs sollen die BremerInnen bei der Wahl der Bürgerschaft, der Stadtteilbeiräte und – in Bremerhaven – der Stadtverordnetenversammlung jeweils fünf Stimmen verteilen dürfen. Und das sowohl auf mehrere Parteien als auch auf einzelne Listenkandidaten (Panaschieren). Auch ein Häufeln (Kumulieren) von Stimmen zugunsten von Parteien und/oder Kandidaten soll möglich sein. Für die Beiräte und die Bremerhavener Stadtverordnetenversammlung dürfen auch EinzelbewerberInnen kandidieren.

Zurzeit haben die WählerInnen bloß eine Stimme, die sie an eine Partei vergeben können. In keinem anderen Bundesland seien die Einflussmöglichkeiten der BürgerInnen auf die Zusammensetzung des Parlaments so gering wie in Bremen, sagte Paul Tiefenbach, Vertrauensperson des Volksbegehrens. Ein Parlamentsausschuss, der erkunden sollte, wie das Wahlrecht verbessert werden könnte, tagte ein Jahr lang – vergeblich: CDU und SPD schmetterten mit ihrer Stimmenmehrheit jeden Vorschlag ab.

Die FDP forderte SPD und CDU gestern auf, den Gesetzesvorschlag von Mehr Demokratie im Parlament zu übernehmen. „Sie sollten über ihren Schatten springen und den Willen der Bürger jetzt ernst nehmen“, so der stellvertretende Landesvorsitzende Magnus Buhlert.

Der SPD-Abgeordnete Björn Tschöpe wies diese Forderung zurück. Der Vorschlag von Mehr Demokratie sei „partizipationsfeindlich“: Nur eine Minderheit werde die erweiterten Möglichkeiten nutzen, sagte er ehemalige Vorsitzende des Ausschusses zur Wahlrechtsreform. Die anderen WählerInnen würden vom komplizierteren Wahlsystem abgeschreckt. Indes sieht auch der Vorschlag von Mehr Demokratie die Möglichkeit vor, mit einem einzigen Kreuz alle fünf Stimmen einer Partei zuzusprechen.

In Hamburg ist dieser Traum von einem bürgernahen Wahlrecht schon wieder vorüber. Am 11. Oktober beschloss die CDU mit ihrer Mehrheit in der Bürgerschaft ein Wahlrecht nach dem Modell der Bundestagswahl. Damit lässt sie vom 2004 erkämpften Wahlrecht der Volksinitiative kaum etwas übrig.

Die Opposition aus GAL und SPD will das nicht hinnehmen. In ihrem Auftrag prüft der frühere Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Ernst Gottfried Mahrenholz, ob der CDU-Beschluss vor dem Landesverfassungsgericht angefochten werden kann. Wenn sein Gutachten in einigen Wochen vorliegt, wird über eine Klage entschieden.

Die Hamburger Sozialdemokraten ziehen mit, obwohl auch sie das von der Initiative vorgeschlagene Wahlrecht für schlecht halten. Die Bremer Genossen wollen sich ähnlich verhalten. Ein Vorgehen wie das der Hamburger CDU schloss der Abgeordnete Tschöpe jedenfalls aus: Das Ergebnis des Volksentscheids werde in jedem Fall akzeptiert.

Vertrauensmann Tiefenbach erinnerte daran, dass alle 15 bisherigen Volksbegehren in Bremen scheiterten, bevor es überhaupt zum Volksentscheid kam. Während es in Hamburg, Schleswig-Holstein und Brandenburg genügt, dass sich vier bis fünf Prozent der Wahlberechtigten per Unterschrift für ein Referendum aussprechen, liegt diese Hürde in Bremen doppelt so hoch. Die Grünen und die FDP wollen sie senken, auch die SPD signalisierte Zustimmung. Voraussetzung, so Tschöpe, sei allerdings ein Ende der Großen Koalition: „Mit der CDU ist das nicht zu machen.“

Die Hamburger Streiter für Demokratie kümmern sich schon gar nicht mehr um die Parteien. Ein breites Bündnis hat für Februar zwei neue Volksbegehren angemeldet: Volksentscheide sollen erleichtert werden und eine größere Verbindlichkeit erhalten. Zweimal schon – beim Wahlrecht und beim Verkauf der Krankenhäuser – hat sich die Bürgerschaft über Volksentscheide hinweggesetzt. Ein drittes Mal soll das nicht passieren.