Currywurst und Tiefkühlpizza

Dicke Kinder sind oft auch arme Kinder – Ernährungserziehung und Kochkurse für Übergewichtige soll Abhilfe schaffen. Doch bislang fehlen Nachweise, dass diese Programme auch tatsächlich dabei helfen, die überflüssigen Pfunde wieder loszuwerden

VON KATHRIN BURGER

Die 17-jährige Claudia wohnt in Neuperlach, dem sozialen Brennpunkt Münchens. Hier ragen Betonhochhäuser gen Himmel, Wände sind mit Sprüchen beschmiert, Bänke demoliert. Claudias Mutter arbeitet als Kassiererin, um sich das 40-Quadratmeter-Apartment leisten zu können. Und sie isst gegen den Stress am Arbeitsplatz an. Eine Packung Chips vor dem Fernseher ist schnell verdrückt. Tiefkühlpizza, Leberkäse, Limonade – Claudia und ihre Mutter bringen zusammen 130 Kilo auf die Waage.

Der Nachwuchs in sozial schwachen Familien ist besonders von Übergewicht betroffen. Die laufende Armutsdebatte rückt Kinder wie Claudia nun wieder ins Interesse von Politik und Gesellschaft. Doch kann sie helfen?

Bislang ist kein Abwärtstrend in Sicht, obwohl sich vielerorts private und öffentliche Initiativen „Ernährungserziehung“ auf die Fahnen geschrieben haben. Aktuelle Zahlen des Robert-Koch-Instituts besagen: Die Anzahl der an Übergewicht und Adipositas erkrankten Kinder hat sich seit den 80er- und 90er-Jahren verdoppelt. Ein Prozent der 3- bis 6-Jährigen aus wohlhabenden Familien zählen zu den Fettleibigen mit einem Body Mass Index von über 30; in armen Haushalten sind es dagegen vier Prozent. Bei den 14- bis 17-Jährigen sind fünf Prozent reiche Jugendliche bedenklich dick, während es in sozial schwachen Milieus 14 Prozent sind. Mittelschichtskinder liegen dazwischen – man spricht von einem „sozialen Gradienten“. Eine Studie der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health hat im Mai aufgedeckt: In 30 Jahren hat sich der Anteil der sozial benachteiligten Kinder unter den Dicken verdoppelt.

Die Gründe für die hohen Übergewichtsraten bei bildungsschwachen Familien sind vielfältig: Wenig Geld und unzureichendes Wissen über gesundes Essen führen einerseits dazu, dass Kinder sich fettreicher und vitaminärmer ernähren. Claudia etwa bewegt sich zudem kaum. Wie auch? Die Spielplätze in ihrer Gegend sind rar.

Aber auch Stress durch langes Fernsehen und Computerspielen, Arbeitslosigkeit, Lärm, Enge oder Gewalt wird als Ursache für die Entstehung von Übergewicht diskutiert. Disstress erhöht Hormone wie Cortisol. Die Folge: Der Körper mobilisiert Zuckerreserven, Insulin strömt ins Blut, so wird Fett zu den Hüften gelotst und dort gebunkert. Zudem zeigen Erkenntnisse aus der Epigenetik, dass Kinder in Mutterleib und kurz nach der Geburt erheblich und oft nachhaltig durch Umwelteinflüsse geprägt werden – ein Teufelskreis, den es zu durchbrechen gilt.

„Der soziale Gradient zeigt, dass Übergewicht kein Problem von einzelnen Menschen ist, die sich nicht beherrschen können“, so Manfred Müller, Ernährungsmediziner an der Universität Kiel. Mit einzelnen Pummelkuren oder Diäten sei dem Problem also nicht beizukommen.

Ministerin Renate Künast setzte sich zu Regierungszeiten sehr für übergewichtige Kinder ein. Einer ihrer Lösungsvorschläge lautete: Ernährungserziehung. So hat das Verbraucherministerium in den Jahren 2003 bis 2005 rund 330.000 Euro indirekt in Ernährungserziehungsprogramme investiert. Weitere 15 Millionen Euro winken den 24 Regionen, die den Wettbewerb „Besser essen, mehr bewegen“ gewinnen. Und man hört nur Positives. So hat das Gesundheitsprogramm „Moby Dick“ in Hamburg nach einem Jahr eine Erfolgsquote von 70 Prozent aufzuweisen, evaluiert von der Deutschen Adipositasgesellschaft. Allerdings sind viele der laufenden Programme nicht auf ihre Wirksamkeit überprüft.

Laut der Cochrane Datenbasis gibt es weltweit lediglich 22 Initiativen, die wissenschaftliche Kriterien erfüllen. Das heißt, ob und wie all die anderen wohlmeinenden Theaterstücke für Kinder, Vorträge über gesättigte Fette und Geschmacksschulungen in Kindergärten und Schulen wirken, weiß man nicht so genau.

Ergebnisse aus der Kieler Präventionsstudie (Kops) zeigen jedenfalls, dass Ernährungserziehung auch Nebenwirkungen haben kann. In dieser Studie hat man untersucht, wie sich Ernährungsunterricht und ein Sportprogramm im ersten Schuljahr auf das Gewicht von 780 übergewichtigen Kindern auswirkt. Insgesamt hatten die Kleinen beim Studienende das Einmaleins des Essens gelernt und ihr Gewicht reduziert. Aber in den sozial schwachen Gruppen wurden die Kinder teilweise dicker.

Wie kommt das? Helmut Heseker, Spezialist für Ernährungserziehung an der Universität Paderborn gibt zu: „Wir müssen die richtige Sprache finden. Bislang sind unsere Broschüren und Vorträge mittelschichtsorientiert.“ Ein anderer Grund: Wer sein Verhalten ändern will, muss motiviert sein und Fehler eingestehen. „Dies ist bei unteren sozialen Schichten seltener der Fall“, so Heseker. Stattdessen wird dann aus der widersprüchlichen Berichterstattung in den Medien die Schlagzeile „Curry-Wurst schützt vor Alzheimer“ herausgefiltert und verinnerlicht.

Volker Pudel, Ernährungspsychologe an der Universität Göttingen, hält nichts von kognitiver Unterweisung. Er plädiert für ein besseres Essensangebot in Kindergarten und Ganztagsschule sowie gemeinsames Essen in der Gruppe. Recht gibt ihm die Cochrane-Untersuchung. Zwei Programme, die nur auf Unterricht setzten, blieben erfolglos. Eine Langzeitstudie des National Heart and Lung Institutes hat zudem belegt, dass nur das Mittherapieren der Eltern nachhaltig wirksam ist. Sie fungieren gerade bei kleinen Kindern als Vorbilder, ab einem Alter von 10 Jahren übernimmt die Clique diese Rolle. „Ideal wäre es darum bereits Kindergartenkinder – oder noch früher: die Schwangeren – zu erreichen“, so Heseker.

Der soziologische Ansatz, die Welt zu verschlanken, hat aber unter den Forschern nur wenige Fürsprecher. Die aktuelle Schrift der Deutschen Forschungsgesellschaft soll die Ernährungswissenschaft neu formieren – sie enthält aber wieder nur medizinische Fragestellungen.