Verkehrte Blicke

TANZ/THEATER Das Festival „Simple Life“ bringt auf Kampnagel Darsteller mit Besonderheiten auf die Bühne – und rückt den Blick vom Rand der Gesellschaft in die Mitte

Wie Identität im Spiegel des Anderen erscheint, zeigt „That Enemy Within“

VON ROBERT MATTHIES

Dass man „anders“ gar nicht von sich aus sein kann, darauf fußt seit Mitte der 60er Jahre eine ganze Soziologie: außergewöhnlich sind die Außenseiter, formulierte damals der US-amerikanische Sozialwissenschaftler und Kriminologe Howard S. Becker, nicht, weil ihre Abweichung auf eine ungewöhnliche und andersgeartete Natur zurückgeführt werden kann. Sondern, weil sie von anderen als abweichend beurteilt werden. Erst die Interaktion zwischen Menschen, die handeln, und Menschen, die darauf reagieren, schafft die Unterscheidungsprozesse, in deren Verlauf die „Normalen“ den „Außenseitern“ gegenübergestellt werden. Die Mitte der Gesellschaft und ihr Rand: eine Frage des Blicks und der Auseinandersetzung. Und je nachdem, wo man dabei steht, sind ganz unterschiedliche Perspektiven auf das Ganze möglich: was dem einen einfach erscheint, mag dem anderen unmöglich vorkommen. Und umgekehrt.

Mit dieser komplexen Ökonomie der Blicke und Urteile spielt ab morgen auf Kampnagel das Festival „Simple Life“. Anderthalb Wochen wird hier das Leben in der gesellschaftlichen Peripherie in die Mitte gerückt. Sieben internationale Tanz- und Theaterproduktionen bringen bis zum nächsten Sonntag Darsteller mit Besonderheiten und außergewöhnliche Sichtweisen auf die Welt auf die Bühne. Im Zentrum stehen dabei die tatsächlichen Biografien der ProtagonistInnen, dargestellt sowohl von professionellen SchauspielerInnen und TänzerInnen als auch von Laien: von Straßenkünstlern, Menschen ohne Obdach und Menschen mit Behinderungen, Menschen von woanders oder Menschen, die in die Isolation gedrängt worden sind.

Wie die Identität im Spiegel des Anderen erscheint und ausgehend von dieser Erfahrung entworfen wird, thematisiert etwa heute Abend Lola Arias’ Stück „That Enemy Within“. Ihr Spiel im Grenzbereich von Realität und Fiktion hat die argentinische Autorin ausgehend von ganz unterschiedlichen Perspektiven auf das Zwilling-Sein entwickelt: persönliche Erfahrungen des Zwillingspaares Esther und Anna Becker – die eine Schauspielerin, die andere Regisseurin –, Berichte von und Studien über Zwillinge, literarische, filmische oder psychoanalytische Überlegungen über Doppelgänger, Doubles, Originale und Kopien.

Gemeinsam stellen die drei Frauen mit ihrer Performance zwischen Selbst-Porträt und Lecture, Choreografie sich wiederholender Gesten und Manifest über das Leben mit dem Anderen eine Reihe zentraler Fragen: Kann ich mich duplizieren, so dass ich nie wieder alleine bin? Ist eine Welt vorstellbar, in der jeder einen Zwilling hat? Wer ist das Original, wer die Kopie? Und wer stellt dar, wer wird dargestellt?

Die Geschichte eines ungleichen Paares erzählt auch das koreanische Dance Theater Chang im Stück „Brother“. Der eine zweier Brüder ist behindert. Und der andere muss lernen, in der Öffentlichkeit damit umzugehen. Doch er hält dem Druck der abfälligen Bemerkungen und Blicke nicht Stand und verrät den Jüngeren. Um nach all den Jahren der Beschimpfung und des Drangsalierens wieder mühevoll zu jener Liebe zurückzufinden, die der Außenseiter ihm nie entzogen hat.

■ Fr, 12. 11. bis So, 21. 11., Kampnagel, Jarrestraße 20; www.kampnagel.de