SCHWABINGER KRAWALL: ALLERHEILIGE IRRWEGE

VON MICHAEL SAILER

Dass Frau Hammler seit drei Tagen im Bett liegt und schnieft und wehklagt, mit ihr gehe es zu Ende, wäre für ihren Mann hinnehmbar. Aber dass er an einem strahlend sonnigen Sonntag statt in der Fröttmaninger Heide nachzuschauen, ob noch ein paar Butterpilze nachgekommen sind, das Grab seiner Schwiegereltern schmücken soll, geht ihm zu weit. Ihr Vater, sagt er, sei ein muffiger Stinkstiefel gewesen, der sich auf Kosten des Familienvermögens totgesoffen habe, was ihre Mutter noch befördert habe, indem sie bei jeder Gelegenheit ihren versalzenen Kalbsbraten gebraten und einen damit förmlich gezwungen habe, ein Bier nach dem anderen zu trinken, um nicht zu verdursten. Zudem seien beide so lange tot, dass es Zeit werde, das Grab freizugeben, wie das bei seinen Eltern längst geschehen sei.

Allerheiligen sei Familientradition, jammert Frau Hammler, und er könne wohl kurz am Friedhof vorbeifahren. Herr Hammler grummelt und packt die vier Blumentöpfchen ein. Ab dem Frankfurter Ring ist der Radweg gesperrt, weil Buden von Blumenverkäufern aufgestellt sind, vor denen Menschentrauben wimmeln, was ihn zum Schieben zwingt und so ungeduldig macht, dass er eine alte Frau, die keine Anstalten macht, ihn vorbeizulassen, leicht mit dem Vorderrad antippt, worauf sie sofort ihre Tüten fallenlässt, kreischend ins Fahrrad stürzt und beide zu Fall bringt.

Erschrocken und beschämt bietet Herr Hammler an, ihre Taschen ans Grab zu tragen, das jedoch im hintersten Teil des Friedhofs liegt und nicht leicht aufzufinden ist. Nachdem die Frau fünfmal gesagt hat, sie sei absolut sicher, sich dann erneut auf einen Zahlendreher herausreden will und Herrn Hammler einschärft, er solle gefälligst nicht so schnaufen, platzt ihm der Kragen: Es sei ihm egal, brüllt er, zu wessen Bestem ihr vermaledeiter Gemahl in Stalingrad gekämpft habe, jedenfalls sei das 60 Jahre her, und wenn er gar nicht erst hingegangen wäre, wäre er heute noch am Leben und bumperlgesund, wohingegen er in den nächsten zehn Minuten einen Schlaganfall erleiden werde, und deshalb solle sie ihm den Buckel hinunterrutschen.

Er lässt die Frau sprachlos zurück und eilt zum Grab seiner Schwiegereltern, das jedoch ebenfalls nicht leicht aufzufinden ist, weil Herr Hammler die Zahlenkombination des betreffenden Sektors vielleicht noch nie gewusst, jedenfalls aber vergessen hat. Nachdem er zwei Stunden lang herumgeirrt ist und am Ende die alte Frau wiedertrifft, entfährt ihm ein gewagter Fluch, dann möchte er, als er sieht, wie die Sonne im Nachmittagsdunst versinkt, am liebsten weinen, besinnt sich jedoch und schenkt die vier Töpfchen der Frau, die davon so begeistert ist, dass sie ihn spontan auf einen Kalbsbraten ins nächste Wirtshaus einlädt.

Als Herr Hammler spätabends heimkommt, schwer betrunken von dem salzigen Braten, und seine Frau schlafend vorfindet, beschließt er, eine kleine Notlüge sei kein Schaden, schließlich habe er ja fast ein Jahr Zeit, um irgendwann Blumen auf das Grab zu pflanzen.