Galaxis der unnahbaren Göttinnen

Kaum jemand hat im frühen 20. Jahrhundert so akademisch gemalt wie er. Seine Bilder sind voller Skelette, bleicher Frauen und leerer Landschaften. Die Bielefelder Kunsthalle zeigt den belgischen Surrealisten Paul Delvaux und spürt in 70 Werken dem Geheimnis seiner weiblichen Figuren nach

VON PETER ORTMANN

Seine Bilder zeigen nichts von dieser Welt. Würden sie das tun, dann wäre diese Welt eine andere – eine riesige Bühne für wohlgeformte Frauen, die sie meist auch noch nackt bevölkern und auf der Männer nur eine untergeordnete Rolle spielen. Doch meist sind die Herren der Schöpfung abwesend, finden sich körperlich als Skelette in pseudoklassischer Architektur wieder, geistig abwesend sind sie immer. Die Bielefelder Kunsthalle zeigt den belgischen Maler Paul Delvaux (1897-1994). Das ist der Surrealist, der neben Frauen auch gerne Eisenbahnen malte, dessen ausgefeilte Landschaften an Giorgo de Chirico erinnern, seine Männer schon mal an René Magritte.

Kein Wunder, 1934 macht ihn die Ausstellung „Minotaure“ im Brüsseler Palast der Schönen Künste mit den Arbeiten von Magritte, Ernst, Dali und de Chirico bekannt. Das orientiert seinen Stil in entscheidender Weise. 1938 nimmt er dann bereits selbst an der Internationalen Ausstellung des Surrealismus in Paris teil. Sein persönliches Aufeinandertreffen mit de Chirico blieb kühl. Warum nur?

„Das Geheimnis der Frau“ lautet der Untertitel der umfangreichen Werkschau in Bielefeld (45 Gemälde, 30 Zeichnungen), für die zahlreiche private, wie institutionelle Sammlungen ihre Depots öffneten, nicht zuletzt das Delvaux-Museum in Saint-Idesbald an der belgischen Küste. Aber auch in der Kunsthalle wird das Geheimnis seiner Bildersprache nicht gelüftet. Kunsthistoriker zitieren zwar gern bekannte Frauengestalten quer durch die Jahrhunderte, versuchen den theatralischen Räumen in Delvaux‘ Bildern und den scheinbar blutleeren erotischen Körpern eine einordnende Struktur und historische Bestimmung zu geben. Doch die Bilder haben sich dem schon zu Lebzeiten des Malers entzogen, existieren aus sich selbst heraus und sind sich eigentlich selbst genug. Es sind die unbestimmbaren inhaltlichen Möglichkeiten selbst, die viele Werke der Surrealisten überdauern lässt. Weil die Freiheit der eigenen Gedanken und der Berührtheit nicht eingeschränkt werden kann, selbst von originalen Zitaten des Künstlers zu seiner Arbeit nicht. Wer sich also die Bilder ohne theoretischen Ballast ansieht, der taucht voyeuristisch in eine erstarrte weibliche Welt, ab und zu scheint sie jemand zu durcheilen. Auch diese Bewegung scheint erfroren. Oder leben die Göttinnen in einer anders ablaufenden Zeitdimension?

Ein Wesen durchzieht die Bilder wie ein roter Streifen. Es ist Tam, Delvaux‘ große Liebe, mit langen blonden Haaren und großen dunklen Augen. Seine Eltern hatten die Verbindung einst verboten, doch die beiden trafen sich Jahrzehnte später zufällig wieder und konnte endlich heiraten. Auch seine Kunst konnte er im bürgerlichen Elternhaus erst durch den Einfluss des Maler Franz Courtens behaupten. Delvaux studierte Anfang der 1920er an der Brüsseler Akademie der Schönen Künste zunächst Architektur und dann vier Jahre lang Malerei im Atelier von Constant Montald. Dort arbeitet Delvaux erst einmal nach der Natur und die erste Eisenbahn entstand. Das Studium der Baukunst kam ihm erst später bei seinen tiefen, meist zentralperspektivisch weiten Landschaften natürlich zu gute. Der Künstler, der in seinem Leben zwei Weltkriege erlebte, zeichnete als erstes Bahnarbeiter und Gehöfte mit Kuh und Baum. Eigentlich wollte er nie modern sein. Die revolutionären Strömungen des 20. Jahrhundert gingen an ihm spurlos vorbei.

Die Ausstellung in der Bielefelder Kunsthalle beginnt in der ersten Etage mit dem Spätwerk von Paul Delvaux. Zentral hängt „Les vierges sages“ (Die weisen Jungenfrauen) von 1965. Die sieben Frauen schreiten als Priesterinnen mit Öllampen vor einer Seepromenade mit klassischer Architektur. Und sie sind weiß bekleidet. Nackt sind nur die Schönheiten im Hintergrund. Ansonsten sind auf dieser Ebene das einzige Skelett der Ausstellung (Le Squelette a la Coquille, 1944) und viele frühe Portraits zu sehen. Das Highlight im oberen Stockwerk ist das frühe „Couple avec enfants dans a foret“ (1928-29), ein Gemälde das frappierend an Modigliani (1884-1920) erinnert. Ihn hat Delvaux insbesondere wegen dessen Malweise von Hautoberflächen geschätzt. Im seinen letzten Bildern tauchen auch verstärkt Männer auf, oft mit wissenschaftlichen Habitus, wie in „Les Astronomes“ (1961). Da scheinen zwei Welten in einem Bild aufeinander zu treffen. Sie existieren nebeneinander, ohne Kontaktmöglichkeit und Bewusstsein des jeweils anderen. Links diskutieren die Astronomen die Mondphasen, eigentlich eher als Karikaturen ihrer selbst gemalt, und rechts wandeln die nackten Göttinnen unbemerkt durch ihren Hain. Das ist bis heute eine gute Beschreibung unserer technologisch geprägten Welt, die ihre uralten Riten und Mythen längst verloren hat.

Bis 21. Januar 2007Infos: 0521-32999500