Hilferufe aus Afghanistan

Präsident Karsai fordert die Bevölkerung zum Kampf gegen die Taliban auf. UNO bittet Geberländer um Geld. Gouverneur von Helmand kritisiert Ausbleiben von Hilfe

„Befreit Euch von dieser Bedrohung, die Afghanistan seit Jahren zerstört!“

BERLIN taz ■ Der afghanische Präsident Hamid Karsai hat sich gestern mit einen Appell an die Extremisten im eigenen Land gewandt. Afghanen sollten sich nicht von den radikal-muslimischen Taliban beherrschen und in den Kampf gegen ihre eigenen Familien treiben lassen, sagte Karsai nach den Gebeten zum Ende des Fastenmonats Ramadan. „Meine Botschaft an alle, die von Fremden benutzt werden und ihre eigenen Leute und Kinder töten, ihre Häuser zerstören, meine Botschaft ist: Befreit Euch von dieser Bedrohung, die Afghanistan seit Jahren zerstört!“, sagte Karsai. „Ich rufe sie auf, in ihre Heimat zurückzukehren und sich selbst davon zu befreien, dass sie von anderen benutzt werden. Damit sie ihr Land aufbauen und nicht zerstören.“

Am Sonntag hatte Taliban-Chef Mullah Omar eine Verstärkung der Kämpfe gegen die Nato-Truppen und Regierungskräfte in Afghanistan angekündigt. Er drohte mit einer überraschend großen Angriffskraft seiner Anhänger und forderte die Nato zu einem Abzug ihrer rund 30.000 Soldaten auf.

Seit Monaten ist ein Wiedererstarken der Taliban in Afghanistan nicht zu übersehen. Fast täglich werden neue Selbstmordanschläge und Angriffe auf die Nato-Truppen gemeldet. Wiederaufbauprojekte und humanitäre Hilfe für die Kriegsopfer fallen vor allem im Süden des Landes der Gewalt zum Opfer. So erreichten die Hilfslieferungen des Welternährungsprogramms der UNO in den letzten drei Wochen ein Viertel weniger Bedürftige als zuvor. Gleichzeitig ruft die UNO die Geberländer auf, ihre Hilfszusagen einzuhalten. Wegen anhaltender Dürre benötigen nach Schätzungen der UNO etwa 1,9 Millionen Menschen Lebensmittelhilfen. Die UNO und die afghanische Regierung appellierten gestern an die internationale Gemeinschaft, dringend benötigte Mittel freizugeben, um die Bevölkerung kurz vor dem Winter mit dem Lebensnotwendigsten zu versorgen.

Klarere Worte für die ausbleibende Hilfe fand Mohammad Daud, der Gouverneur der südafghanischen Provinz Helmand, wo der Hauptteil des britischen Kontingents der Nato-Truppen stationiert ist. Er bezichtigte die britische Entwicklungshilfebehörde DFID, sie habe ihr Versprechen, Hilfe in Höhe von mehreren Millionen Pfund zu leisten, gebrochen. Man habe versprochen, Wiederaufbauprojekte zu starten, aber er habe seit Monaten keinen DFID-Vertreter in seiner Provinz gesehen, wird Daud von der BBC zitiert.

In Helmand, der Provinz, die 90 Prozent der afghanischen Opiumproduktion liefert, sehen sich die Nato-Truppen massiven Angriffen der Taliban ausgesetzt. 41 britische Soldaten sind seit 2001 in Afghanistan ums Leben gekommen – drei Viertel von ihnen seit Juli, als Helmand von den Amerikanern an die Briten übergeben wurde. Daher berufen sich die Briten darauf, dass sie erst für Sicherheit sorgen müssen, bevor der Wiederaufbau beginnen könne.

Vielen Afghanen dürfte das zu lange dauern. Erst kürzlich warnte der Nato-Befehlshaber für Afghanistan, David Richards, dass die internationale Gemeinschaft die Unterstützung der einheimischen Bevölkerung verliere, wenn man sich mit dem Wiederaufbau nicht beeile. Und der frühere britische Armeechef Peter Inge legte am vergangenen Wochenende den britischen Soldaten nahe, den Irak möglichst bald zu verlassen. Da es an einer Strategie fehle, so Inge zum Observer, verbesserten die britischen Truppen die Sicherheitslage nicht, sondern verschärften sie. ANETT KELLER