„Armuts-Schwerpunkt ist das Ruhrgebiet“

Nicht das Wort „Unterschicht“ ist für Politologe Christoph Butterwegge ein Problem – heuchelnde Politiker schon

taz: Herr Butterwegge, ist der Begriff „Unterschicht“ diskriminierend?

Christoph Butterwegge: Für mich wirkt der Begriff nicht diskriminierend. Jeder Armuts- und Sozialstrukturforscher braucht solche Bezeichnungen. Wenn er sie einmottet, kann er auch nichts mehr über die damit verbundenen Probleme sagen. Der Begriff wurde aus den USA übernommen, wo die Forscher 1987 von einer „underclass“ sprachen.

Inwiefern trifft der Begriff die Realität?

Fast alle Politiker reden doch von den Mittelschichten. Dann muss es auch ein Darüber und ein Darunter geben. Armut breitet sich, vor allem durch Hartz IV, inzwischen bis in die Mittelschichten aus.

Trägt auch die Landespolitik Verantwortung für die neue Armut?

Ja, sie ist mit schuld an den Problemen. Zum Beispiel werden die Grundschulbezirke aufgelöst. Dadurch können die Gutbetuchten ihre Kinder gezielt auf bessere Schulen schicken, was die soziale Spaltung erhöht. Auch mit Kürzungen der Jugendhilfe und sinkenden Zuschüssen für Kitagebühren erschwert man den Armen das Leben. Es ist daher heuchlerisch, wenn sich die Landespolitiker über Verarmung beschweren.

Wo tummelt sich die Unterschicht in NRW?

Auch wenn sich die Armut in Ostdeutschland konzentriert, liegt ein Schwerpunkt im Ruhrgebiet. Im sächsischen Görlitz etwa leben 42,2 Prozent der Kinder unter 15 Jahren in Hartz-IV-Haushalten. In Gelsenkirchen zählen immerhin 32,4 Prozent der Kinder dazu. In Bochum, Essen und Dortmund sind es rund 27 Prozent. Dahinter steckt zum großen Teil die hohe Arbeitslosigkeit. Weil Kinderbetreuungsplätze für Alleinerziehende fehlen, werden noch mehr Menschen arbeitslos und arm.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband fordert, die Hartz-IV-Regelsätze anzuheben. Was halten Sie davon?

Das würde das Problem zumindest lindern. Sinnvoller wäre eine soziale Grundsicherung für Familien deutlich oberhalb des Sozialhilfeniveaus. Es wäre schon viel erreicht, wenn alle Eltern die Schulbücher ihrer Kinder bezahlen könnten. Finanzieren ließe sich das durch eine Vermögenssteuer.

Herr Butterwegge, Sie gehören selbst zur Oberschicht. Warum beschweren Sie sich?

Nun ja, ein Hochschullehrer gehört wohl eher zum gehobenen Teil der Mittelschicht. Aber ihn kann nicht gleichgültig machen, dass die Gesellschaft in Arm und Reich zerfällt.

INTERVIEW: MORITZ SCHRÖDER