Todsünden in der Butterbrotdose

ZWANG Gesunde Kinder – gut und schön. Aber langsam übertreiben es Schulen und Kitas mit ihren Verboten

Diesen Brief bekam die Autorin von der Schule ihres Sohnes: Bitte keine Energy-Drinks, Ice-Teas, Limonaden, Säfte, Kakaos, Erdbeershakes, gesüßte Joghurtdrinks, süße „Gesundheitsgetränke“ (z. B. ist in Actimel ein Berg Zucker oder Süßstoff), Saftmischgetränke, Schorlen, Biomixgetränke, Sportgetränke, Smoothies.

Dasselbe gilt für den Snack. Bitte nix Süßes oder Ungesundes wie Gesundheitsriegel, Energieriegel, Sportriegel, Balisto, Croissants, Müsliriegel, Bioriegel, Bioenergiebällchen, „ethnische“ Spezialleckereien, Nutella-/Marmeladestullen, auch nicht in der Biovariante. Auch in Biosachen ist Zucker oder Zuckerersatzstoff wie Agavendicksaft, Honig, Fruchtsüße.

VON UTA SCHWARZ

Montagmorgen, noch eine halbe Stunde Zeit, bis die Schule beginnt. Während der Sohn sein Müsli isst und man selber noch halb verträumt am Kaffee nippt, ein schneller Blick in den Kühlschrank: Was darf es denn heute als Pausenbrot sein? Bergblumenkäse? Ein prüfender Schulterblick zum Sohn, der prompt jault: Iiieh, Käse! Der Ziegenfrischkäse scheidet damit ebenfalls aus. Die Erdbeer-Sanddorn-Marmelade? Ja, die ist es. Schnell vier Knäckebrote dünn mit Butter beschmiert, Marmelade drauf, vier Cherrytomaten und einen Joghurt mit Mangoschaum eingepackt. Eilig Salbeitee (mit etwas Honig gesüßt) in die Flasche gekippt: fertig! Wir können los.

Schwierig, gegen etwas Vernünftiges zu sein

Alles richtig gemacht? Leider nein. Marmeladenbrot ist an der Schule des Sohns verboten. Ebenso Joghurt. Und der Salbeitee? Bitte nicht, wenn er gesüßt ist. Es herrschen strenge Regeln für den Pausensnack, die Liste der Dinge, die „nicht gehen“, ist lang. Als Faustregel gilt: nichts Süßes oder Ungesundes. Denn: Deutschland wird immer dicker. Und wenn die Schule den Kindern beibringt, dass Essen gesund und lecker sein kann, soll verhindert werden, dass aus den Kleinen von heute die Moppel von morgen werden.

Als die Mail der Schule mit der Liste inakzeptabler Pausensnacks eintrifft, ist man zunächst ob ihrer schieren Länge verblüfft. Und dann verärgert. Ist ein Marmeladenbrot Teufelszeug? Was ist gegen „‚ethnische‘ Spezialleckereien“ einzuwenden? Und was ist das überhaupt? Elke Liesen, Expertin von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, gibt der Schule Rückendeckung: „Die Frage ist, ob diese Lebensmittel unbedingt in der Schule verzehrt werden müssen“, sagt die Ernährungswissenschaftlerin. „Bleibt dazu nicht in der Freizeit, an Wochenenden, Feiertagen und in den Ferien reichlich Freiraum?“ Sie begrüßt, dass sich immer mehr Schulen für die Gesundheit ihrer Schüler und Schülerinnen einsetzen und ein kritischer Blick in die Brotdose geworfen wird.

Es ist schwierig, gegen etwas zu sein, was vernünftig wirkt. Doch es gibt Gegenargumente. Die haben aber weniger mit dem begrüßenswerten Wunsch nach gesundem Essen zu tun als mit der Art, wie er durchgesetzt wird. Die Grenzlinie verläuft zunächst da, wo Gesundes propagiert wird, aber Verzicht die Folge ist. Alle Regeln und Verbote permanent zu befolgen, den Zuckergehalt einer Marmelade, eines Müsliriegels, eines Kakaogetränks stets vor Augen zu haben – das ist viel verlangt.

Und es kann im schlimmsten Fall sogar krank machen: Als Orthorexie bezeichnet man das übersteigerte Verlangen, nur noch Gesundes zu essen. Diese Krankheit ist erst seit 1997 dokumentiert, demnach ein relativ neues Phänomen. Menschen mit Orthorexie sind so fixiert darauf, sämtliche Inhaltsstoffe ihrer Lebensmittel zu kennen, dass sie bis zu vier Stunden täglich damit beschäftigt sind. Gegessen haben sie in dieser Zeit natürlich noch nichts. Die selbst auferlegten Regeln für gesundes Essen werden nach und nach immer strenger, sodass man letztlich kaum noch etwas zu sich nehmen kann.

Zugegeben, das sind Extremfälle. Aber wie nehmen Kinder eine Lebensmittelverbotsliste auf? Als der Sohn am Nachmittag aus der Schule kommt, erzählt er, es habe Ärger gegeben mit der Pausenaufsicht. Seine Marmeladenbrote seien nicht in Ordnung. Einen Joghurt mit Mangoschaum solle er besser nie essen, auch nicht zu Hause, das könne er der Mama ruhig mal sagen. Na danke! Die Todsündenliste erzieht eben nicht in erster Linie die Kinder, sondern – quasi über Bande gespielt – deren Eltern. Denn sie sind es, die die Pausenmahlzeit vorbereiten. Und das ist genau das Problem. Man kann ja davon ausgehen, dass Eltern das Wohl ihrer Kinder im Blick haben. Dass ein Schokocroissant und ein Actimel kein vernünftiges Frühstück sind – man ahnt es. Problematisch kann ein solches zweites Frühstück aber doch erst werden, wenn das Kind jeden Tag so etwas in der Brotdose hat. Ist einmal monatlich ein Croissant im Schulranzen, das Kind ansonsten ausgewogen ernährt, frisch und gesund, dann sollte doch eigentlich alles gut sein.

Stattdessen erzieht man die Kinder mit einer langen Verbotsliste zu kleinen Besserwissern. Das fällt erst richtig auf, wenn der Siebenjährige dem Besuch, der auf dem Balkon raucht, die Zigarettenschachtel aus der Hand schlägt. Oder wenn er lange Vorträge darüber hält, wie ungesund Schokolade ist – wenn man gerade ein Mousse au Chocolat rührt. Schrecklich.

Ganz wichtig: kleine Sünden

So wird das aber kommen, wenn wir alles regeln. Oder, Herr Schiffer? Eckhard Schiffer ist Psychotherapeut und Autor, eines seiner Bücher heißt „Warum Tausendfüßler keine Vorschriften brauchen – Wege aus einer normierten Lebenswelt“. Er meint, dass in der Begegnung mit Kindern so viel Freiheit wie möglich und so viele Vorschriften wie gerade nötig sinnvoll sind. „Prinzipientreue im Hinblick auf eine gesunde Kost ist etwas anderes als Prinzipienverbissenheit, die keine Ausnahme von der Regel kennt.“ Verbissenheit erzeuge eher Protest, der zum Gegenteil dessen führe, was ursprünglich angestrebt war.

Zur Erziehung gehört, zu vermitteln, dass man auf seinen Körper achten und ihm Gutes geben soll; aber auch, dass kleine Vergehen eben auch in Ordnung sind. Dass das Wissen darüber, was gesund ist, einen nicht immer davon abhalten wird, auch mal etwas Ungesundes zu sich zu nehmen, ein bisschen Genuss, eine kleine Sünde – auch das sollte ein Kind lernen.

Seit dem Marmeladenbrotereignis wünscht der Sohn sich übrigens nur noch Brote mit Butter und Salz für die Schule. Aber nicht nur wegen der Liste. Sondern weil er sie wirklich mag.