„Das ist eine Vorverlegung der Sorge“

In Bremen fanden die ersten Mammografie-Screenings zur Früherkennung von Brustkrebs statt. Jetzt ist die Auswertung des Modellprojekts veröffentlicht worden. Ob der Nutzen den Schaden überwiegt, ist unklar, sagt der Experte Klaus Giersiepen

INTERVIEW: EIKEN BRUHN

taz: Herr Giersiepen, Ihr Institut wollte sich wegen inhaltlicher Differenzen nicht an der Auswertung des Modellvorhabens beteiligen. Was hätten Sie sich für das jetzt angelaufene bundesweite Screening-Programm gewünscht?

Klaus Giersiepen: Eine Aussage dazu, ob durch Screening die Brustkrebssterblichkeit sinkt und welche Auswirkungen es auf die Lebensqualität hat. Leider wird das jetzt nicht erforscht.

Was ist daran bedauerlich?

Statistisch gesehen wird durch diese Art der Krebsfrüherkennung ein Tumor vier Jahre früher erkannt als ohne. Wenn eine Frau beispielsweise mit 67 Jahren ohne Screening ihren Tumor selbst entdeckt hätte, so erfährt sie jetzt mit 63 Jahren bei der Reihenuntersuchung von ihrer Krankheit.

Das ist ja erst mal nicht verkehrt, oder?

Es mag Fälle geben, in denen dadurch Lebenszeit verlängert werden kann, und oft lassen sich kleinere Tumoren besser behandeln. Es ist aber auch vorstellbar, dass dieser Krebs nicht therapierbar ist und nur die Überlebenszeit-Uhr um vier Jahre vorverstellt wird. In solchen Fällen ist das keine Vorsorge, sondern eine „Vorverlegung der Sorge“.

Wie hätten Sie erforscht, welche Auswirkungen das Screening auf die Lebensqualität hat?

Wir haben damals gesagt, lasst es uns machen wie in Finnland oder Schweden. Dort wurden die Bewohnerinnen der Landkreise per Zufallsgenerator in zwei Gruppen eingeteilt. Man hätte das Screening zunächst in der ersten Gruppe angeboten und später dann in Gruppe 2. Das hätte man sauber auswerten können. Es hieß, dass das in Deutschland verfassungsrechtlich bedenklich ist, weil es eine ungleiche Behandlung ist. De facto haben wir die aber trotzdem. Bremen ist als Modellregion ganz vorne dabei, einige Bundesländer haben noch gar nicht angefangen, wie Sachsen-Anhalt.

In Bremen gab es zu Beginn des Screenings eine teils heftige Debatte. Mittlerweile hört man kaum noch Kritisches.

Dabei gibt es dazu allen Grund. Das heiße Thema ist derzeit die Überdiagnose. So ist belegt, dass bei einigen Krebsarten die Früherkennung Karzinome aufspürt, die niemals Probleme zu Lebzeiten verursacht hätten. Das trifft vor allem auf Prostata-Krebs zu, aber auch auf Brustkrebs. Frauen sollten wissen, dass es in einem Viertel aller Fälle zu einer solchen Überdiagnose kommt.

Das heißt, man sollte nicht zur Vorsorge gehen?

Das kann man so nicht sagen, bei Gebärmutterhals-Krebs beispielsweise scheint der Nutzen ganz klar zu überwiegen. Es gibt aber auch ein Recht auf Nicht-Wissen. Ich nehme das für mich selbst in Bezug auf Prostata-Krebs in Anspruch und rate auch Freunden davon ab. Der Schaden überwiegt hier den Nutzen.

Und Mammografie?

Ich kann da keinen eindeutigen Rat geben, Befürworter und Gegner haben gute Argumente, das hält sich die Waage. Wenn eine Frau sich zur Untersuchung entscheidet, würde ich darauf achten, dass es eine Doppelbefundung gibt wie bei dem Screening. Dass also mindestens vier Augen auf das Röntgenbild sehen.

Der dänische Screening-Kritiker Peter Gøtzsche hat gerade eine Studie veröffentlicht, die den Nutzen stark in Zweifel zieht.

Ich habe diese noch nicht ganz gelesen, aber mein Eindruck ist, dass Gøtzsche zahmer geworden ist und nicht mehr alles in Frage stellt. Seine Erkenntnisse sind in jedem Fall ernst zu nehmen. Es gibt aber beim Thema Früherkennung noch einen Aspekt, der mich wirklich wütend macht. Obwohl der Nutzen oft nicht belegt ist, diskutieren Politiker ernsthaft die Möglichkeit, dass Patienten bei Krebs draufzahlen sollen, wenn sie nicht zur Früherkennung gegangen sind. Das ist unverschämt. Und nach wie vor verursachen Röntgenstrahlen Schaden im Gewebe. Eine kleine Anzahl von Tumoren entstehen erst durch Mammografie.

Die Befürworter argumentieren, dass in Ländern wie Holland, wo das Screening schon eingeführt ist, weniger Frauen an Brustkrebs sterben.

Ja, und im Krebsatlas des Deutschen Krebsforschungszentrums kann man erkennen, dass seit Ende der 90er Jahre die Mortalitätsrate in Deutschland parallel zu der in Holland sinkt – ohne Screening. Das trifft auf die meisten europäischen Länder zu.

Woran liegt’s?

Man weiß es nicht. Aber alle verbuchen das als ihren Erfolg. Die einen sagen, das liege an der besseren Chemotherapie, die anderen sagen, „wir operieren besser“ und die Holländer schieben’s auf Screening.