Leiden und sterben lassen

CHAMPIONS LEAGUE Mit rücksichtslosem Pragmatismus und einem berauschenden Konterfußball bezwingt Real Madrid den FC Bayern im Halbfinalhinspiel mit 1:0

AUS MADRID FLORIAN HAUPT

Tausende Fans bildeten vor dem Anpfiff ein Spalier für den Mannschaftsbus von Real Madrid auf dem Weg zum Estadio Santiago Bernabéu. Schals wurden geschwenkt, bengalische Feuer gezündet. Seit dem Pokalsieg vorige Woche gegen den FC Barcelona herrscht beim Publikum ein Gefühl von Einigkeit und Glaube, das es so lange nicht mehr gegeben hat. „Como no te voy a querer“, sangen die Anhänger noch lange in der Nacht, „Wie könnte ich anders, als dich zu lieben?“: Die „décima“ ruft, der ersehnte zehnte Sieg im wichtigsten Europacup, die Rückeroberung des königlichen Throns.

Zu diesem höheren Zweck wird so ziemlich alles toleriert, auch der wenig royale Fußball mit seinen Kerzen und Befreiungsschlägen. Das heißt, um fair zu sein, hatte das Publikum gerade ernsthaft zu grummeln begonnen, als eine Klärungsaktion von Verteidiger Pepe nach 17 Minuten die erste Annäherung an das gegnerische Tor veranlasste, einen elektrischen Hochgeschwindigkeitsangriff über Cristiano Ronaldo und Fábio Coentrão, den Karim Benzema zum Tor des Abends über die Linie drückte. „Die beste Kontermannschaft der Welt, gemacht für diesen Fußball“, nannte Pep Guardiola später den Rivalen, und tatsächlich war es ja oft so: Real strahlte 80 Meter vor dem gegnerischen Tor mehr Gefahr aus als die Bayern deren 20.

Nur mit dem eigentlichen Anspruch der Marke Real Madrid hatte das nicht viel zu tun. Gegen die Bayern setzen die Madrilenen rücksichtslos auf Pragmatismus. Sie hatten nur gut 30 Prozent Ballbesitz , obwohl es im Bernabéu sogar noch eine eher mittelfeldfreundliche Variante zu sehen gab mit einem 4-4-2-System und Isco statt dem grippegeschwächten Sprintgott Gareth Bale. Ansonsten hätte der Seitenhieb eines nur mühsam seine Frustration verbergenden Guardiola noch mehr Gültigkeit besessen: „Nicht nur Fußballer, vor allem auch Leichtathleten“, sah der Bayern-Trainer am Werk.

Solche Europacupduelle entwickeln ja immer ihre Psychologie. Die Akzeptanz des Edelcatenaccio von Carlo Ancelotti, für den Ex-Trainer José Mourinho in Madrid noch zuverlässig zur Hölle gewünscht wurde, wäre nicht denkbar ohne die Außenseiterrolle, in der man sich gegen die Bayern sah. In der Presse dominierte anderntags auch die Anerkennung an Real, „eine der schwersten Europartien seiner Geschichte“ (Marca) gewonnen zu haben. Die besten Noten bekamen durchgehend die Verteidiger Pepe, Dani Carvajal und Fábio Coentrão; auch ein Novum.

Wie sehr in der entscheidenden Saisonphase eher Schweiß und Tränen gefordert scheinen, verdeutlicht der Umstand, dass Real sowohl das Pokalfinale vorige Woche als auch das Hinspiel nun ohne sein galaktisches Duo gewann. Gegen Barcelona fehlte Ronaldo verletzt, gegen die Bayern nun Bale. Als ihn Ancelotti in der 73. Minute brachte, nahm er dafür Ronaldo vom Platz. Ein Schelm, wer dabei nicht nur an die Rekonvaleszenz des zuvor drei Wochen lang unpässlichen Weltfußballers dachte, sondern auch an Ancelottis mögliche Sorge um seinen Defensivverbund.

Die Debatte aber ist serviert, und Ronaldo nervt sie schon genug, um Majestätsbeleidigung zu wittern: „Einige wollten ja nicht, dass ich spiele.“ Der Frage, ob nicht genau der Verzicht auf einen der beiden Superstars erst zu der lange vermissten Solidität geführt habe, musste sich Ancelotti jedoch stellen. „Vom Teamwork her waren die beiden letzten Spiele die besten“ räumte er ein und umschiffte das Thema ansonsten nach Kräften, indem er generell „Opferbereitschaft“ und „Willen“ seiner Spieler lobte sowie den beiden Galácticos noch ein kleines Zuckerl hinwarf: „Es ist nicht einfach so gut zu spielen wie wir mit Ronaldo bei 50 Prozent und ohne Bale.“

Für das Rückspiel wird nun sein ganzes Feingefühl im Personalmanagement gefragt sein. Bleibt er beim 4-4-2 könnte er ähnlich gekonnt den Bus vor dem eigenen Strafraum parken wie im Bernabéu. Kehrt er zum gewohnten 4-3-3 mit Ronaldo, Benzema und Bale zurück, erhöht er die Chancen auf entscheidende Kontertore. Nur mit einem ist wohl nicht zu rechnen – dem Versuch, die Partie zu kontrollieren, der vor wenigen Wochen beim 0:2 in Dortmund im Chaos unterging. Real Madrid hat erst mal eine andere Identität gefunden: leiden und sterben lassen.