In jedem Monat ein neuer Verdacht

Nach dem Tod des zweieinhalbjährigen Kevin werden neue Vorwürfe gegen die Mitarbeiter des Bremer Jugendamts laut. Sie sollen mehr gewusst haben, als sie heute zugeben. Experten glauben, dass die Tragödie in Deutschland kein Einzelfall ist

Die Bremer CDU verweigert eine Erhöhung des Sozialetats

AUS BREMEN JAN ZIER

Sie wiederholen es immer wieder: Sie haben von nichts gewusst. Darauf zieht sich die Bremer Sozialbehörde nach wie vor zurück, zwei Wochen nach dem Fund der Leiche des zweijährigen Kevin. Dabei wusste das Jugendamt, das die Vormundschaft über das Kind hatte, über das kriminelle Vorleben von Kevins Eltern offenbar genauer Bescheid, als es bislang zugegeben hat.

Der 41-jährige Vater, der wegen Verdachts auf Totschlag in Untersuchungshaft sitzt, ist mehrfach wegen Gewaltdelikten vorbestraft. „Einige dieser Verfahren waren dem Jugendamt auf alle Fälle bekannt“, sagte der Sprecher der Bremer Staatsanwaltschaft, Frank Passade. „Wenn man gewollt hätte, hätte man alles wissen können“, sagte ein nicht namentlich genannter Insider dem Bremer Weser-Kurier.

Die Angaben zum drogenabhängigen Vater und seiner verstorbenen Frau würden in der Behörde ganze Bände füllen. Zudem haben das Sozialamt und die Bremer Agentur für Integration und Soziales (Bagis) wochenlang darüber gestritten, wer für den Unterhalt von Kevins Vater aufkommen muss. Der Vater bekam deshalb vier Wochen kein Geld – bis das Verwaltungsgericht die Bagis zur Zahlung verurteilte.

Die Sprecherin des Bremer Sozialressorts, Heidrun Ide, sagte hingegen: „Ich kann nur wiedergeben, was das Jugendamt schon vor Tagen gesagt hat: ‚Wir haben von nichts gewusst.‘ “ Auch die inzwischen zurückgetretene Sozialsenatorin Karin Röpke (SPD) hatten dies wiederholt beteuert, ebenso wie ihre Staatsrätin Birgit Weihrauch. Der ganze Fall werde geprüft, sagt Ide – doch das könne bis zu zwei Monaten dauern. Alles weitere solle ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss klären, der jetzt eingesetzt wird.

Unterdessen gehen Experten davon aus, dass es sehr viel mehr Kindesmisshandlungen gibt als gemeinhin angenommen – innerhalb wie außerhalb Bremens. Der Chefarzt der Bremer Professor-Hess-Kinderklinik etwa, Hans-Iko Huppertz, sieht in dem Fall Kevin nur einen unter vielen. „Wir haben sicherlich jeden Monat einen Verdacht auf Kindesmisshandlung“, sagt der Kinderarzt, der seit 25 Jahren auf diesem Gebiet tätig ist, unter anderem auch in Niedersachsen und Bayern. In jedem einzelnen Fall hätten die behandelnden Ärzte das jeweils örtliche Jugendamt benachrichtigt. Doch dann sei es dem Amt oft nicht gelungen, eine bessere Unterbringung zu bekommen. „Und das Kind kam beim nächsten Mal mit wesentlich schwereren Verletzungen – bis zum Tod“, sagte Huppertz.

Seine Kritik wollte er ausdrücklich nicht auf Bremen beschränkt wissen. Kinder würden in Deutschland viel häufiger misshandelt, als es die Öffentlichkeit wahrnehme, sagte Huppertz. Deutliche Zeichen seien Rippen- oder Beinbrüche, die bei kleinen Kindern „praktisch nie“ durch Stürze vorkommen. Blutergüsse, die auf die Einwirkung von schweren Gegenständen verweisen, oder Verbrennungen, die sich auf das Ausdrücken von Zigaretten zurückführen lassen, seien ebenfalls Signale. Doch wenn nicht klar sei, wer das Kind zu Hause verletzt habe, dann werde auch vonseiten der Gerichte im Zweifelsfall zugunsten der Eltern entschieden: „Und das Kind geht nach seiner Genesung wieder zurück in die Familie.“

In Bremen wurden unterdessen als „Sofortmaßnahme“ 97 Familien unter die Lupe genommen, wobei nicht alle Familien mit Alkohol- oder Drogenproblemen Besuch von Amts wegen bekamen. Jedoch sollen weitere 400 bis 500 Familien mit Kindern unter 14 Jahren überprüft werden. Dabei geht es unter anderem um Fälle, bei denen Kinder in den vergangenen zwei Jahren vorübergehend in staatliche Obhut genommen wurden.

Zusätzliche Stellen im Amt sind allerdings nicht geplant. Bislang betreuen nach Auskunft der Sozialbehörde drei Mitarbeiter rund 620 Fälle von Amtsvormundschaft in Bremen. Doch die Bremer CDU hat sich gegen eine Erhöhung des Sozialetats ausgesprochen. Zusätzliche Familienbesuche müssten aus dem bestehenden Etat bestritten werden. „Hier geht es schließlich um Leben und Tod von Menschen“, hieß es zur Begründung.