Akademischer Appell zu mehr Engagement

DEBATTE In der Berliner Akademie der Künste wurde am Wochenende Oskar Negts „politischer Mensch“ beschworen, fern aller Aktualität

Wenn man sich also Sorgen machen müsste, dann um einen Baukonzern, der einen xenophoben Branchenfremden einstellt, obwohl er ohne (schlecht bezahlte) ausländische Leiharbeiter vermutlich kein Gebäude fertigstellen könnte

Nehmen wir Roland Koch. Elf Jahre war der CDU-Mann Ministerpräsident von Hessen. Bis er in diesem Sommer urplötzlich zurücktrat. Um dann, keine zwei Monate später, in das Unternehmen Bilfinger Berger zu wechseln. Im Sommer 2011 wird Koch, lange Zeit der harte Mann der CDU, die Führung des zweitgrößten deutschen Baukonzerns übernehmen. Und obendrein noch den deutschen Aufsichtsrat der größten Schweizer Bank UBS.

Das Beispiel des rechten Frontmannes ist nicht der einzige Fall, bei dem der Soziologe Oskar Negt vergangenen Freitag etwas ins Schleudern kam. Auf den ersten Blick wirkt Kochs Switchen zwischen Politik und Wirtschaft wie der Bilderbuchbeleg für Negts These, dass jene „betriebswirtschaftliche Rationalität“ in die Politik Einzug gehalten hat, die sie von innen aushöhlt und nur noch nach Effizienz statt nach Gemeinwohl fragt. Beim 36. Akademiegespräch der Berliner Akademie der Künste wiederholte der Adorno-Schüler das Mantra, das er seit dem Erscheinen seines neuen Buches „Der politische Mensch“ landauf, landab lanciert, einmal mehr.

Überzeugender wird es dadurch nicht. Denn Roland Koch war mitnichten ein bornierter Betriebswirt. Die ausländerfeindliche Kampagne, der er 1999 seinen Wahlsieg verdankte, war zwar übelste, aber eben doch pure Ideologie. Wenn man sich also Sorgen machen müsste, dann um einen Baukonzern, der einen xenophoben Branchenfremden einstellt, obwohl er ohne (schlecht bezahlte) ausländische Leiharbeiter vermutlich kein Gebäude fertigstellen könnte.

Überhaupt fragte man sich, wozu diese Diskussion stattfand. Sind nicht Stuttgart, Hamburg und das ewige Gorleben der Beweis dafür, dass der „politische Mensch“ und die „Demokratie als Lebensform“, den die Geistesrepublik am Pariser Platz beschwor, sich historisch immer wieder rechtzeitig zu revitalisieren verstehen? Auch wenn beide nicht mehr ganz so jugendlich frisch aussehen, wie einst im Pariser Mai. Und es des Aufgebots dreier alter Männer, die sich zeit ihres Lebens ideologisch und parteipolitisch ziemlich nahestanden, nicht bedurft hätte, um sie wieder zum Leben zu erwecken. Nicht, dass alles falsch war, was Wolfgang Thierse, Klaus Staeck und eben Oskar Negt beklagten: die Ersetzung demokratischer Öffentlichkeit durch die Talkshow, die Allgegenwart des Ökonomischen, die Hegemonie der Realpolitiker und so weiter. Aber selbst ihre Appelle zu „mehr Engagement“ und dem „Primat der demokratischen Politik“ blieben oft vage und akademisch.

Erst dem Dokumentarfilmer Andres Veiel, 51, dem vierten Mann auf dem Podium, gelang es, das kassandröse Trio etwas zu erden. Vielleicht hat der Regisseur von Werken wie „Der Kick“ und „Black Box BRD“ einfach den genaueren Blick für den Alltag. Veiel verwies auf das eklatante Missverhältnis zwischen einem „Schutzschirm“ aus 500 öffentlichen Milliarden für bankrotte Banken und deren privater Aneignung als Manager-Boni. Gegen Veiels, ganz ohne populistischen Schaum vor dem Mund intonierte Frage: „Wissen Abgeordnete eigentlich, was sie unterschreiben?“, kam Wolfgang Thierse mit seinem Hinweis auf die „Langsamkeit der Politik“ und die damalige „Extremsituation“ nur schwer an. Veiel weiter, mit Blick auf Stuttgart: „Das Unbehagen darüber geht an den Kern des Systems.“

Nicht, dass man von den Granden der Linkssozialdemokratie Aufrufe zu Massenstreik und Revolution erwartet hätte, um das Unbehagen zur Umwälzung zu wenden. Nach einem Jahrhundert der blutig gescheiterten gesellschaftlichen Großversuche hat die Warnung des „gebrannten Kindes“ Wolfgang Thierse vor neuerlichen Systemutopien einiges für sich. Doch den Umbau der Arbeitsgesellschaft, die „historisch an ihr Ende gekommen“ (Negt) und verantwortlich für die Dreiteilung der Gesellschaft sei, erreicht man nicht allein dadurch, dass man den Begriff „Demokratischer Sozialismus“ im SPD-Parteiprogramm rettet, wie es Wolfgang Thierse für sich reklamierte, und dass man die Risse beobachtet, die sich im System auftun, wie es Oskar Negt empfahl. Irgendwann wird man die „Reformpolitik über den Tag hinaus“ (Thierse), die wohlfeilen Bekenntnisse zu Volksentscheiden und der Rekommunalisierung städtischer Betriebe wirklich umsetzen müssen. Dazu braucht es aber die Idee von einer anderen Gesellschaft und nicht bloß „politisches Urteilsvermögen“, wie es Oskar Negt am Schluss als Minimaldefinition für den „politischen Menschen“ definierte. Denn das hat vor allem einer: Roland Koch. INGO AREND