Skandale schön verkraften

FORDERUNG Lebensmittelwirtschaft: Das EU-Parlament ändert nichts an der Gesetzesmisere. Dabei zeigt Skandinavien, wie es besser gehen könnte

■ 48, ist stellvertretender Geschäftsführer und Leiter der Kampagnen bei Foodwatch. Im früheren Leben war er Tierarzt und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag. Foodwatch ist seit 2002 ein Verein, derzeit hat er etwa 25.000 Förderer.

VON M. WOLFSCHMIDT

Schimmeliges Tierfutter, Schokoladenkalender mit Rückständen von Mineralöl, Dioxin-Eier und falsch gekennzeichnete Produkte mit Pferdefleisch – der Handel sowie die gesamte Lebensmittelwirtschaft hatten zuletzt einige große Lebensmittelskandale zu verkraften“, klagte das branchenbekannte Kölner Institut für Handelsforschung im Mai 2013 (bit.ly/1l6Cv32).

Lebensmittelskandale. Immer wieder. Jedes Mal muss die Wirtschaft sie „verkraften“. Schlagzeilenspringflut, Talkshows, die Abwiegelungsmaschine anwerfen. Das stresst und kostet Geld. Und die Verbraucherinnen werden auch immer lästiger, stellen Fragen, fordern Transparenz.

Doch mit Transparenz im Lebensmittelmarkt ist es nicht weit her – da kann sich die Branche entspannt zurücklehnen. Zwar wurde 2005 das Deutsche Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch (LFGB) neu gefasst, und zusätzlich ist ein „Verbraucherinformationsgesetz“ über das Volk gekommen, das die Informationsansprüche von Bürgerinnen gegenüber Behörden regeln soll. Aber die langen Gesetzestexte bringen nicht mehr als Scheintransparenz.

Anfragen über das Verbraucherinformationsgesetz sind zu langwierig und kompliziert, drohende hohe Gebühren wirken abschreckend. Und die behördlichen Veröffentlichungspflichten im neu gefassten Paragraf 40 LFGB führen mitnichten dazu, dass die Bürgerinnen erfahren, wer die Gammelfleischhändler, Pferdefleischpanscher oder Schmuddelwirte sind. Der Gesetzestext erwies sich in der Praxis als untauglich. Weshalb nun zig Gerichtsverfahren klären müssen, was Behörden sagen dürfen. Weshalb das Land Niedersachsen eine Normenkontrollklage einreichte. Und weshalb nach dem Pferdefleischskandal kein einziger Handelskonzern zur Haftung für den millionenfachen Verkauf nicht verkaufsfähiger Ware herangezogen wurde.

Der Bundesrat hat sich übrigens im März 2013 dafür ausgesprochen, „ein bundesweit einheitliches System zur Information der Verbraucherinnen und Verbraucher über die Ergebnisse amtlicher Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen zu schaffen“. Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt: An dieser Front hat sich seither nichts getan.

Stattdessen ist die EU-Kommission tätig geworden und hat die Neufassung einer ganzen Reihe von Gesetzen rund um die Lebensmittelkontrolle lanciert. Mehr als 170 Seiten stark ist der Kommissionsentwurf, mit dem medienwirksam Transparenz geheuchelt wird. De facto bedeutet der Entwurf nicht weniger als einen „Maulkorb“ für Kontrollbehörden. Denn die Kommission zieht aus den Lebensmittelskandalen der Vergangenheit nicht etwa die Konsequenz, durch umfassende Transparenzvorschriften für Behörden den öffentlichen Druck auf die Lebensmittelwirtschaft zur Einhaltung der Gesetze zu erhöhen.

Im Gegenteil, den Behörden wird eine weitreichende „Geheimhaltungspflicht“ auferlegt: Sobald der „Schutz der geschäftlichen Interessen“ von Unternehmen beeinträchtigt würde, sollen Behörden ihre Informationen nicht mehr weitergeben dürfen. Da es dem Wesen unternehmerischer Betätigung entspricht, geschäftliche Interessen zu haben, ist Transparenz für Behörden damit perdu. Schweigen würde künftig erste Behördenpflicht – damit die gebeutelte Ernährungsbranche endlich weniger Lebensmittelskandale zu „verkraften“ hat.

■ 430 Kontrolleure der Lebensmittelüberwachung gibt es im bevölkerungsreichsten Bundesland NRW. Die sind aber auch dazu da, die Verbraucher vor gesundheitlichen Gefahren durch Kosmetika und sogenannte Bedarfsgegenstände, etwa Kleidung oder Reinigungsmittel, zu schützen. Somit fallen 7.000 Erzeuger, 3.000 Hersteller und Abpacker, 6.000 Transportunternehmen, 70.000 Einzelhändler und 93.000 Dienstleistungsbetriebe unter die Aufsicht der Lebensmittelüberwachung.

■ Knapp 100.000 Betriebe wurden so 2012 kontrolliert, viele davon mehrfach. Bei mehr als 26.000 Betrieben meldeten die Überwacher Verstöße gegen die Richtlinien. Nur wenige davon findet man im bundesweiten Portal www.lebensmittelwarnung.de.

Das Europäische Parlament hat diesem Skandalbeseitigungsgesetz am 16. April zugestimmt. Die letzte Chance, die neue Verordnung noch zu stoppen, liegt jetzt bei den Mitgliedstaaten der EU. Sie müssen im Ministerrat noch zustimmen. Doch in Deutschland jedenfalls war kein Aufschrei unter den ach so transparenzwilligen Verbraucherministerinnen in Bund und Ländern zu vernehmen – gleich welcher politischen Couleur.

Nur aus den skandinavischen Ländern regte sich bisher Widerstand. Kein Wunder: Dänemark etwa hat seit mehr als zehn Jahren beste Erfahrungen mit behördlicher Transparenz gemacht. In unserem Nachbarland werden über das sogenannte Smiley-System alle Lebensmittelkontrollergebnisse veröffentlicht. Das System wirkt, die Verbraucherinnen freut’s und auch die Ernährungsbranche ist nach anfänglichem Widerstand zufrieden.

Was alle betrifft, müssen auch alle wissen dürfen? In Deutschland behalten Behörden ihr Wissen viel zu oft für sich. Mit dem neuen EU-Gesetz wird man von Amts wegen noch konsequenter schweigen – europaweit. Damit auch ja keine geschäftlichen Interessen beeinträchtigt werden. So lassen sich Lebensmittelskandale für die Branche einfach besser „verkraften“.