Die „Linie 1“ zum Mythos gefahren

NACHRUF Mit Wolfgang Kolneder hat das Grips Weltruhm erlangt. Jetzt verstarb der Regisseur

„Er war der intellektuelle Vordenker unseres Theaters“

GRIPS-CHEF VOLKER LUDWIG

Er war es, der 1986 die junge Ausreißerin aus der Provinz im Berliner „Orientexpress“ kreuz und quer durch Kreuzberg schickte. Niemand konnte damals wissen, dass die Fahrt seiner „Linie 1“ bis heute andauern würde. Das Stück ist ein Theatermythos, wird weltweit aufgeführt, am 30. April 2011 pendelt die „Linie 1“ 25 Jahre zwischen Zoo und Schlesischem Tor.

Wolfgang Kolneder, der Regisseur des erfolgreichsten deutschen Musicals nach Brechts „Dreigroschenoper“, kann das Jubiläum im Grips-Theater nicht mehr miterleben. Kolneder, erst 67 Jahre alt, starb am 14. November in Berlin überraschend an einem Herzleiden. Volker Ludwig, Chef im „Grips“ und Autor der Linie 1, würdigte am Montag Kolneder als einen „genialen“ Theatermacher.

Die Geschichte von den skurrilen Berliner Nachtgestalten auf der musikalisch-irren U-Bahn-Reise war nicht der einzige Erfolg des 1943 in Graz geborenen Kolneder. Im Grips am Hansaplatz brachte er unter anderem „Eine linke Geschichte“, „Voll auf der Rolle“ oder „Das hältste ja im Kopf nicht aus“ auf die Bühne.

Dass seine Aufführungen so dauerhafte und durchschlagende Hits wurden, hatte insbesondere damit zu tun, dass Kolneder die Dramaturgie des Jugendtheaters revolutionierte. Musik, Songs, rasche Szenenfolgen, provokante Dialektik, Screwball, witzige Figuren und ein rasanter Erzählrhythmus gehörten zu seinem Stil als Regisseur. Seine Regieanweisungen übersetzten den Text ins Sinnliche, Kolneder ließ die Akteure wortwörtlich spielen. Ludwig: „Er war der intellektuelle Vordenker unseres Theaters“ und hatte das Talent für das „genaue Timing und die Dialoge.“

Kolneder war ein Multitalent. Er hatte bei Walter Jens in Tübingen studiert, gab eine Kunstzeitschrift heraus und arbeitete als Regisseur und Intendant seit Mitte 1960er Jahre am Sprechtheater und im Kabarett, für den Tanz und die Oper – in Düsseldorf und Berlin, am Staatstheater Braunschweig und an der Seoul Metropolitan Opera. Zudem lehrte er an der Hochschule der Künste in Berlin, der National Theatre School in Montréal sowie am Mozarteum in Salzburg.

Als er 1974 mit seiner Frau, der Schauspielerin Ulrike Zecher, ans Grips kam, stellte er das bestehende Reglement im Hause erst einmal auf den Kopf: „Zuerst alle Songs schreiben. Und nicht an die Umsetzung auf der Bühne denken!“, erinnert sich Ludwig an Kolneders Anweisungen. Das war neu und nicht ungefährlich. Zum Probenbeginn war das Stück nicht mal halb fertig gewesen. Das Finale wurde kurz vor der Premiere gebaut. Manche glaubten, die Uraufführung würde ein Fiasko. Nur Kolneder nicht. Recht hat er behalten.

ROLA Foto: Grips-Archiv