Markierung der Zeit

Viele Haare sortieren: Das Festival „Telling Time“ in den Sophiensælen widmet sich theaterspezifischem Erzählen

Der Berg wird nicht kleiner. Können vier Tage überhaupt für hunderttausend Haare ausreichen?

Graue Haare sind dicker als braune. Man sieht es mit bloßem Auge, wenn San Keller die Pinzette ins Licht hält. Der Schweizer Aktionskünstler sitzt im Virchowsaal der Sophiensæle an einem großen, weißen Tisch, vor sich in einer Art Quicheform seine Kopfhaare, die soeben mittels Schneidemaschine von ihren Wurzeln getrennt wurden. Nun will er sie sortieren. In die noch braunen und die schon ergrauten. Eine altmodische Präzisionswaage soll nach viertägiger Arbeit Auskunft geben, was mehr wiegt: die Jugend oder das Alter. Die Zuschauer sitzen um ihn herum und entscheiden im Zweifelsfall, in welche der beiden Waagschalen ein Haar gelegt wird.

Die Performance „Braun/Grau“ ist Teil des Festivals „Telling Time“, das in den Sophiensælen noch bis Morgen in sieben internationalen Produktionen das Erzählen auf dem Theater hinterfragt. Die „Geschichten, die nach Worten suchen“, wie es im Untertitel heißt, wurden in zum Teil monatelanger enger Zusammenarbeit mit den Sophiensælen entwickelt. San Keller hat den Festivaltitel wörtlich genommen. Während er jeden Abend von 18 Uhr bis Mitternacht seine Haare sortiert, können sich die Besucher zu ihm setzen und ihm Geschichten aus ihrem Leben erzählen. Man tauscht Frisörerfahrungen aus, eine Dame mit krachendem Berliner Charme erzählt von Rumpelstilzchen. Der Boden der Schalen ist allmählich bedeckt, aber der Berg auf dem Tisch wird nicht kleiner. Etwa hunderttausend Haare hat jeder Mensch auf dem Kopf, weiß eine junge Frau. San Keller überlegt, ob vier Nächte für diese Arbeit ausreichen.

Oben im Festsaal wird währenddessen„Stillen“ gezeigt, die neueste Inszenierung Lotte van den Bergs. Ohne Worte, in eindringlichen Bildern entwirft die junge Belgierin ein Kaleidoskop des Verlangens der Körper – des stillbaren und des unstillbaren. Sechs Menschen stehen auf einer Bühne, die mit Seife ausgelegt ist. Stühle in unterschiedlichen Verfallsstadien markieren den Lauf der Zeit. Ebenso die Schauspieler: Sie stammen aus drei Generationen, der älteste Spieler ist siebzig, die Jüngste sieben Jahre alt. Mit erschütternder Eindringlichkeit wechseln sie scheinbar fließend zwischen Lachen und Weinen, Begehren und Ablehnung, Ruhe und Bewegung. Das offene Spiel lässt Raum für eigene Assoziationen. Haltlos wirkt es nicht. Haltlos werden jedoch die Darsteller, als eine Junge, mittels Klebeband seines Augenlichts beraubt, an einem Strick zieht. Eine unter der maroden Saaldecke installierte Wasserflasche ergießt sich über die Bühne, und der nun unsichere Seifenboden entfacht die Leidenschaften eines vorher scheuen Pärchens.

„Telling Time“ versteht sich nicht als Erzähltheaterfestival, sondern als Werkschau theaterspezifischen Erzählens, in dem Erzählperspektiven durchlebt werden. So auch in Ivana Müllers lebendigem Gruppenbild „While We Were Holding It Together“, das Donnerstag letzter Woche gezeigt wurde und in dem die Imagination der Zuschauer das einzige Bewegungsmoment war. Von anderen Orten wurde erzählt, Rockmythen wurden durchlebt, und Konspirationen schärften die Wahrnehmung. Durch die enge Zusammenarbeit von Sophiensælen und Künstlern wurden die Kategorien Erzählzeit und erzählte Zeit durch den dritten Aspekt der Produktionszeit ergänzt. Es dauert eben, bis ein Stück auf die Bühne kommt.

Auch San Kellers Sortieraktion dauert noch an. Der Boden der Waagschälchen ist kaum mehr zu sehen. Er wird wohl eine zusätzliche Pinzette besorgen, damit die Zuschauer mitmachen können, während sie erzählen. Warum graue Haare dicker sind als braune, konnte ihm noch immer niemand sagen.

LEA STREISAND

„Braun/Grau“. Heute und So., ab 18 Uhr. „Stillen“, heute und So., 20 Uhr. Sophiensæle, Sophienstraße 18, Mitte