Die narrative Kraft des Faktischen

In ihren historischen Romanen zeigen Bernd Schroeder, Felicitas Hoppe und T Cooper, dass Geschichte nicht nur aus Geschichten besteht, die man einfach nachbeten darf. Eine Erkenntnis, die auch für die Gegenwartsliteratur wichtig ist

Von WIEBKE POROMBKA

Wenn Schriftsteller das Personal ihrer Bücher allzu unverhüllt aus der Gegenwart rekrutieren, dann ist das immer mal wieder Anlass für einen kleinen Skandal. Maxim Biller musste sich für seinen Roman „Esra“ nicht nur vor der versammelten Kritikerschaft, sondern gleich noch vor einem ordentlichen Gericht rechtfertigen. Jüngster Fall: „Ulrike Maria Stuart“, das neue Stück von Elfriede Jelinek, durch das die Tochter von Ulrike Meinhoff ihre Persönlichkeitsrechte verletzt sieht. Für mediale Präsenz sorgt die geschickte Platzierung von Faktischem in der Gegenwartsliteratur also allemal. Die Frage nach dem ästhetischen Stellenwert der Werke allerdings tritt in diesem Zusammenhang häufig in den Hintergrund.

Naturgemäß gestaltet sich die Situation bei Stoffen aus der Vergangenheit entspannter. Zum Skandal geben sie äußerst selten Anlass. Der historische Freiraum, in dem sich die Autoren bewegen, eröffnet stattdessen die Möglichkeit, einmal ganz grundsätzlich über den ästhetischen Umgang mit dem faktischen Material nachzudenken. In diesem Herbst sind drei Romane erschienen, die ihr historisches Sujet dafür nutzen, Reflexionen über das Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion anzustellen. Und ganz nebenbei wollen sie natürlich auch drei mitreißende Geschichten erzählen. Das gelingt nicht immer.

Die Ereignisse, von denen Bernd Schroeder in seinem Roman „Hau“ erzählt, haben auf jeden Fall das damalige Publikum glänzend unterhalten. 1907 wird Carl Hau, der Geltungssucht und Größenwahn zum Prototyp des hochstapelnden Lebemanns zu vereinen weiß, in einem äußerst fragwürdigen Indizienprozess des Mordes an seiner Schwiegermutter für schuldig befunden. Nach siebzehn Jahren Haft und zwei Jahren in Freiheit begeht Hau 1926 Selbstmord. Die tödlichen Schüsse konnten ihm nie zweifelsfrei nachgewiesen werden. Gestanden hat er sie nie.

Schroeders Bearbeitung des Falls, der vor 100 Jahren monatelang die Presse beherrschte und zu aufgebrachten Kundgebungen von Hau-Sympathisanten vor dem Karlsruher Gericht führte, bedient sich der bekannten Mittel des dokumentarischen Romans. Zeitgenössische Kommentare werden mit Zeugenaussagen, Briefen oder Zitaten aus den Prozessakten verschnitten. Hinzu kommen erzählerische Passagen. Die Chronologie ist aufgehoben, so dass der Leser von Beginn an keinen Zweifel über den Ausgang des Geschehens und das Ende von Hau haben kann.

Was stattdessen in den Mittelpunkt rückt, ist das ungesicherte Verhältnis von Fakt und Fiktion. Vorgeführt wird hier auf den verschiedenen Erzählebenen, wie das Material sich zu einem Vexierbild zusammensetzt, das sich so oder auch ganz anders fügen ließe. Gezeigt wird auf diese Weise, wie Illusion und Suggestion scheinbar von selbst aus der Kombination von Fakten entstehen. Dem wird, hat man das Prinzip einmal durchschaut, allerdings kaum noch Überraschendes hinzugesetzt. Und so wird spätestens im letzten Drittel, in dem die Fadenscheinigkeit der Prozessführung in eine permanente Wiederholungsschleife mündet, die Lektüre von Schroeders Roman einigermaßen ermüdend.

Wie ein kleines Wunder liest sich im Gegensatz dazu „Johanna“, der neue Roman von Felicitas Hoppe. Auf 171 Seiten – knapp halb so viel wie Schroeder für den Fall Hau brauchte – hat man es hier mit einem eigenwilligen, hochkonzentrierten Sprachgebilde zu tun. Hoppe will nicht noch einmal die hinlänglich bekannte Legende der Bauerstochter Johanna von Orléans erzählen, die im Jahr 1431 auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, nachdem sie die französischen Truppen siegreich im Kampf gegen die englischen Belagerer geführt hatte. Anstatt den zahlreichen Bearbeitungen der Geschichte von Johanna eine weitere hinzuzufügen, ist es der ebenso leidenschaftliche wie zermürbende Vorgang der Aneignung und der Fortschreibung des historischen Stoffs selbst, der Hoppe interessiert.

Dafür spinnt sie einen traumgleichen, feingliedrigen Erzählfaden. Die im universitären Milieu angesiedelte Ausgangssituation ist denkbar einfach. Die Erzählerin forscht im Rahmen ihrer Dissertation über die Geschichte der französischen Nationalheldin. Am Ende wird eine Prüfung stehen, in der sie ihre detaillierte Kenntnis der Fakten über Johannas Lebensumstände unter Beweis stellen muss. Dass die Erzählerin sich den Anforderungen dieser Prüfung entziehen und im institutionellen Sinne scheitern wird, macht den poetischen Reiz dieses Romans aus. „Die Geschichte besteht ja nicht nur aus Geschichten, die man leichtfertig nachbeten darf, nur weil sich ein dankbares Publikum findet“, protestiert die Erzählerin gegen ihre Professoren: „Die Geschichte besteht aus Qual und Bemühung, aus Einsicht und Furcht, aus Versuch und Angst, aus Respekt und Eifer, aus Einwand und Schweiß, aus endlosen langen schlaflosen Nächten.“ Und so schwingt sich Felicitas Hoppe zur Verteidigerin eines Poesiebegriffs auf, der stürmisch die Notwendigkeit der dichterischen Aneignungsenergie und Gestaltungskraft einfordert. Was das heißt, wird in „Johanna“ gleich par excellence vorgeführt. Denn dass dieses Unternehmen nicht zu einem angestrengten Selbstvergewisserungsversuch wird, liegt an der Sprachlust und dem Witz von Hoppe.

Eine Autorin, die Hoppe und ihrer Protagonistin in Sachen Kraft und Leidenschaft nicht nachsteht, ist die Amerikanerin T Cooper. Wem sie bisher vor allem durch ihre zumeist martialisch inszenierten Autorenfotos aufgefallen ist – Kampfhunde und schwere Motorräder gehören zu ihren bevorzugten Accessoires –, der wird erstaunt sein über ihren zweiten Roman „Lipshitz“. Cooper erzählt die Geschichte ihrer eigenen Familie, die Anfang des 20. Jahrhunderts nach Amerika auswandert, um den antijüdischen Pogromen in Russland zu entgehen. Doch noch bevor sie amerikanischen Boden betreten kann, geschieht eine Katastrophe: Beim Verlassen der Fähre geht der fünfjährige Ruben Lipshitz verloren – und wird nicht mehr gefunden. Fortan verirrt sich Rubens Mutter Esther zwischen der Suche nach Wahrheit und dem Versuch, die Schuld an dem Verschwinden des Sohns zu verdrängen. Der Versuch der Familie, das Unglück zu verschweigen, wird mit einem Mal erledigt. Als zwanzig Jahre nach dem Vorfall auf der Fähre das Bild von Charles Lindbergh die Titelseiten der Gazetten schmückt, steht für die Mutter augenblicklich fest: Dieser Mann, der als Erster nonstop den Atlantik überflogen hat, ist kein anderer als ihr Sohn Ruben. Manisch archiviert sie jede noch so kleine Nachricht über den Fliegerhelden und schreibt unermüdlich Briefe an ihn und seine Angehörigen. Als sie schließlich – wiederum sind Jahre vergangen – den mittlerweile in der Öffentlichkeit äußerst umstrittenen Lindbergh auf einer Kundgebung sprechen hört, erleidet sie einen Schwächeanfall, an dessen Folgen sie schließlich stirbt.

Die Unbeirrbarkeit, mit der sich die Mutter ein fremdes Leben einverleibt, findet sein Pendant im letzten Teil des Buchs. Nach einem harten Schnitt und einem zeitlichen Sprung ins heutige New York meldet sich T Cooper zu Wort, zu erzählen, wie aus einer Pappschachtel vom Dachboden ihrer Eltern ein Roman geworden ist: „Nicht ein Fitzel ist wahr, auch wenn einige Vorfälle stimmen, und andere auch, obwohl ich sie erfunden habe.“ Cooper kümmert sich in ihrer Schnoddrigkeit scheinbar nicht um die metaphysischen und technischen Fragen des Erinnerns. Trotzdem ist sie unglaublich nah dran an dem, was Hoppe ihre Erzählerin bei ihrer Arbeit an der Geschichte von Johanna erfahren lässt: „Johanna brennt, und ich sitze im Hörsaal. Kann aber sein, dass auch ich gar nicht anwesend bin, auch ich bin nicht da, sondern liege neben dem Kutscher im Bett und tauche nach Kronen.“

Es ist der Wille zur bedingungslosen Aneignung, der „Lipshitz“ und der „Johanna“ so faszinierend macht. Vielleicht hätte man auch Bernd Schroeders „Hau“ ein wenig mehr von dieser Emphase gewünscht: Weniger kaltes Arrangement, mehr Faszination durch das Material hätte dem Roman gut getan. Doch so unterschiedlich das Resultat bei Hoppe, Cooper und Schroeder im Einzelfall sein mag: Es ist die konsequente Aneignung der Stoffe, die aus den historischen Roman mehr werden lässt als bloße Rekapitulation des Bekannten im publikumswirksamen Mantel-und-Degen-Verschnitt. Wenn man das weiß, sollte man sich auch noch einmal Maxim Billers „Esra“ und Jelineks „Ulrike Maria Stuart“ anschauen, die so umstritten sind, weil ihre Bezüge zu zeitgenössischen Ereignissen oder Personen so in den Vordergrund gerückt sind. Vielleicht ist bei aller Aufregung um Klatsch und Tratsch zu kurz gekommen, dass es Mittel der Aneignung gibt, die weniger Direktes über die behandelten Personen sagen, aber sehr viel über die Möglichkeit, Geschichte zu verstehen. Da könnte man einiges vom historischen Roman lernen – vor allem für die Gegenwart.

T Cooper: „Lipshitz“. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit, Marebuchverlag, Hamburg 2006. 489 Seiten, 24,90 €ĽFelicitas Hoppe: „Johanna“. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 176 Seiten, 17,90 €ĽBernd Schroeder: „Hau“. Hanser Verlag, München/Wien 2006. 368 Seiten, 21,50 €