Frau Müllers allerletzte Chance

AUS BERLINSIMONE SCHMOLLACK

Das Kinderzimmer ist tabu für Fremde, Sabine Müller * lässt nur ihre Familienhelferin hinein. Der darf sie den Zutritt nicht verwehren. Nach nicht mal einer halben Minute kommt Ilona Siegert-Marquardt wieder heraus und sagt zu Sabine Müller: „Das geht so nicht. Ich konnte ja keinen Schritt tun.“

Später wird sie erzählen, was sie im Zimmer von Steven und Chantal gesehen hat: Spielzeug, Kleidung, Papier, Gerümpel türmen sich auf dem Boden, als hätte jemand den Inhalt der Schränke ausgekippt. „Wenigstens lagen keine Lebensmittel rum.“ Als die Familienhelferin vor zwei Jahren den Fall Müller übernommen hat, musste sie noch verschimmelte Essenreste unter den Betten hervorklauben, heute ist das Chaos überschaubarer. Trotzdem: „Darüber müssen wir reden“, sagt Ilona Siegert-Marquardt zu Frau Müller, „im Café.“ Die Wohnung von Sabine Müller, 28, ist dunkel. Zwei kleine Zimmer, Bad und Küche im Erdgeschoss eines Hinterhauses in Charlottenburg-Wilmersdorf. Der Berliner Bezirk ist bekannt für sein großbürgerliches Klientel, Sabine Müller gehört nicht dazu. Für den Hauptschulabschluss hat es nicht gereicht. Mit 19 das erste Kind, vier Jahre später das zweite. Der Vater war 17, als sein Sohn Steven geboren wurde, er ist selbst noch ein Junge und lebt bei seiner Mutter.

Sabine Müller ist groß und stämmig. Sie hat sich Lippen und Brauen gepierct, sie trägt mehrere Pullover übereinander. Die hätten schon vor Tagen in die Wäsche gehört. Ilona Siegert-Marquardt, 58, die Familienhelferin, führt ihre Gespräche mit Sabine Müller am liebsten im Café. Früher, als es mit Frau Müllers Ordnung noch gar nicht klappte, hat sie Hosen und Oberteile aus glattem Stoff angezogen, bevor sie in die Wohnung ging. Kaffee hat sie immer abgelehnt. Die Müllers haben oft Läuse, im Kinderzimmer lebt ein Hase, auf dem Flur steht ein Käfig mit einer Ratte, eine Katze streift umher. Im Zimmer der Mutter stehen eine Schlafcouch, ein kleiner Tisch, darauf ein großer Fernseher, gerade läuft ein Autorennen. Auf dem Vertiko sind planlos Gegenstände angehäuft.

Wenn sich Sabine Müller noch einmal gehen lässt, wenn sie sich zumüllt wie früher, dann werden ihr die Kinder weggenommen. Das weiß sie, und das will sie nicht. Sie ist Messie, desorganisiert, jahrelang hat sie sich und die Kinder verkommen lassen. Ilona Siegert-Marquardt weiß, dass Sabine Müller nur aufräumt, wenn sie beide ihren wöchentlichen Termin haben. „Aber das ist ja schon mal was.“ Im Flur stehen Schuhe ordentlich nebeneinander, der Staubsauger bildet demonstrativ eine Stolpergefahr, in der vergilbten Küche steht das Geschirr in den Schränken.

Sabine Müller sitzt ihrer Helferin im Café gegenüber, meist schweigt sie, manchmal antwortet sie. „Was ist denn passiert, dass das Kinderzimmer so aussieht?“, fragt Ilona Siegert-Marquardt. Sie sagt nicht: Warum ist es so schlampig? Mit den Frauen und Männern, die sie in der Einzelfallhilfe betreut, muss sie anders reden, ruhig und bestimmt. Familienarbeit ist sehr kleinteilig. Da ist es schon ein Erfolg, wenn jemand versteht, dass man sich täglich die Zähne putzen muss. Sabine Müller schaut Ilona Siegert-Marquardt kaum an und kaut an ihren Fingernägeln.

Die Berliner Statistik zählt für 2004 3.760 Vernachlässigungen und 770 Misshandlungen auf, davon 257 Vernachlässigungen und 41 Misshandlungen in Charlottenburg-Wilmersdorf. Im Jahr darauf sind es nur noch 184 und 27 Fälle. Sind die Zahlen gesunken, weil der Bedarf sinkt? Nein. Es werden nur weniger bearbeitet, weil das Geld knapper ist. Uta von Pirani, die Leiterin des Bezirksjugendamts, sagt, dass ihr Etat zwischen 2003 und 2005 um ein Drittel, von 30 auf 20 Millionen Euro gekürzt wurde. Die Fälle werden mehr, die Gelder weniger. „Ich versuche auszukommen“, sagt von Pirani. Zwar werde kein Fall abgelehnt, aber inzwischen werde oft an die sozialpädagogische Beratung oder an Sportvereine verwiesen.

Letztlich ist es ein Abschieben von Verantwortung. Eine Heimunterbringung, die manchmal dringend notwendig wäre, wird als allerletzte Möglichkeit angesehen. Nicht nur, weil Ämter und Gerichte die Familien um jeden Preis zusammenzuhalten wollen – ein Heimplatz kostet 3.000 Euro im Monat, eine Familienhilfe wie die von Ilona Siegert-Marquardt deutlich weniger. Die Helferin arbeitet auf Honorarbasis beim Verein „Geburt und Familie“, sie hat in ihren 15 Berufsjahren alles gesehen. Sie hat obdachlosen Frauen und deren Kindern Wohnungen besorgt, sie hat Lehrstellen gesucht und kennt alle Anlaufstellen: Schuldnerberatung, Sozialamt, Jobcenter, Ärzte, Kitas, Sportvereine, Schulen. Mit Steven geht sie regelmäßig zum Logopäden und zur Gehirnstrommessung, sie macht mit ihm Hausaufgaben. Er ist in der dritten Klasse und weiß so viel wie ein Erstklässler. Chantal, seine Schwester, ist 1,13 Meter groß und hat zehn Kilo Übergewicht. „Sie platzt bald“, sagt Sabine Müller. Ilona Siegert-Marquardt hat eine Kindersperre für den Kühlschrank besorgt und Ernährungspläne aufgestellt.

Kimberley und Nancy haben sich heute nur einmal geprügelt. Früher machten sie das mehrmals täglich, bis Blut floss. Aus nichtigen Anlässen: ein Zahnpastaspritzer auf dem Badspiegel, ein falsches Wort. Ihre Mutter, die 44-jährige Monique Schneider, war mit einem Afrikaner verheiratet, er hat sich vor drei Jahren das Leben genommen, weil sie sich von ihm getrennt hatte. Ilona Siegert-Marquardt wäre wohl nie bei den Schneiders aufgetaucht, wenn die Mutter vor zwei Jahren nicht Unterstützung beantragt hätte. Sie bekommt Hartz IV und arbeitet für 1,50 Euro pro Stunde in einer Schulküche. Das Gespräch auf dem Amt zeigte, dass bei Familie Schneider einiges im Argen liegt. Mutter und Kinder brüllten sich nur an, die Nachbarn beschwerten sich. Die Familie hatte den Tod des Vaters nicht verwunden.

Monique Schneider trägt Tigerjeans und Anorak. Sie raucht eine Zigarette nach der anderen, ihre Stimme klingt wie ein Reibeisen, sie hat Probleme mit der Grammatik. Aber sie wird es schaffen, sagt Ilona Siegert-Marquardt. Die Dreizimmerwohnung in einem Neubaublock ist voller Nippes und verwohnt, aber aufgeräumt und sauber. Im Flur hängt ein großes Fotos des Vaters. Er war 35, als er ging. Vielleicht muss man sagen, dass sein Tod für seine Familie die Rettung war. Er war Drogendealer.

Monique Schneider kocht regelmäßig, meist afrikanisch, die Kinder sind ordentlich gekleidet, gehen pünktlich zur Schule. Ilona Siegert-Marquardt hat es geschafft, dass die Schneiders miteinander reden statt zu schreien, sie hat die 9-jährige Kimberley beim Tanzen angemeldet, die 7- jährige Nancy beim Fußball.

„Nancy muss zu Hause mehr für die Schule üben“, sagt die Helferin zu Frau Schneider. „Ach, die kann doch alles“, sagt sie. „Darüber müssen wir noch mal reden.“

In wenigen Tagen endet die Hilfe. Sabine Schneider wird noch lange Unterstützung brauchen, bis die Kinder groß sind. Finanziell weiß sie sich allein zu helfen, sie kennt genau die Stellen, wo es was zu holen gibt, da verfügt sie über fundiertes Wissen. Der Staat hat es ihr vermittelt. Ilona Siegert-Marquardt wird sie trotzdem begleiten.

* alle Klientennamen geändert