Keine Experimente!

ARCHITEKTURDISKUSSION Aus Anlass der Publikation seiner großen historischen Studie „Die Stadt im 20. Jahrhundert“ traf Vittorio Lampugnani im Berliner Institute for Cultural Inquiry (ICI) auf Hans Kollhoff. Die einstigen Brüder im Geiste haben sich entfremdet

VON INGO AREND

Investitionsarchitektur! Wer vor drei Monaten die Zeitung aufschlug, traute seinen Augen nicht. Was war bloß in Hans Kollhoff gefahren, dass er derart gegen die Gegenwartsarchitektur wetterte? Okay – an manchen Stellen sieht Berlin schon aus wie die Hauptstadt der Allianz-AG. Aber ist die schlechte Kopie der Fantasiearchitektur von Gotham City mit den angeklebten Backsteinen, die der Polarisierer 1999 an den Potsdamer Platz stellen und als Beitrag zur „Europäischen Stadt“ ausgeben durfte, etwa sozialer Wohnungsbau? Doch dass aus dem reaktionären, Pardon: traditionsbewussten Saulus kein kapitalismuskritischer Paulus geworden war, bewies die Diskussion, zu der sich Kollhoff vor zwei Tagen mit seinem alten Mitstreiter Vittorio Lampugnani in Berlin traf.

Schon in der Art und Weise, wie da zwei einstige Verbündete stritten, konnte man sehen, welchen Stellenwert die Frage nach der Stadt der Zukunft heute hat. Vor gut 15 Jahren hatte der „Berliner Architekturstreit“ mit seinen Reizworten „Traufhöhe“, „kritische Rekonstruktion“ und „Lochfassade“ noch Ausmaß und Verve eines Kulturkampfes wie derzeit der um den Feminismus. Nun herrschte im edelholzbelegten Sitzungssaal des Berlin Institute for Cultural Inquiry (ICI) der Kammerton des Hauptseminars. Aus dem wertkonservativen Provokateur Lampugnani, Jahrgang 1951, war der große Differenzierer geworden. Nur Hans Kollhoff, Jahrgang 1946, gab unbeirrt den Samurai der Vormoderne.

Im Jahr 1993 hatte Lampugnani in seinem berüchtigten Spiegel-Manifest die pointengeile Architektur der Postmoderne verworfen, den Funktionalismus der Moderne als Tabula-rasa-Ideologie verdammt und für „Inseln im Strom der Verwirrung“ plädiert. Das „Planwerk Innenstadt“, zu dem Hans Stimmann diesen geistigen Höhenflug herunterbuchstabierte, hatte Berlins damaligen Senatsbaudirektor zum Hassobjekt der Bau-Avantgarde aufsteigen lassen. Heute geht Lampugnani, Professor für die Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich mit Architektenbüro in Mailand, seriöser vor.

Sein kürzlich erschienenes Werk „Die Stadt im 20. Jahrhundert“ ist 912 Seiten dick und über 600 Abbildungen reich. Und bis auf die Abrechnung mit Le Corbusier – nirgends wird man in diesem voluminösen Folianten so zugespitzte Thesen finden wie kurz nach dem Mauerfall. Detailverliebt entfaltet der Historiker darin die Ideengeschichte einer zivilisatorischen Errungenschaft von der Gartenstadt bis heute. Und vielleicht war es diese forcierte Standpunktlosigkeit seines einstigen Bruders im Geiste, die Kollhoff so in Rage brachte. Oder Lampugnanis beiläufige Bekenntnisse, dass die Parzellierungsstrategie Stimmanns vielleicht doch nicht der Weisheit letzter Schluss gewesen sei.

Nicht, dass Lampugnani sich gänzlich von der Idee verabschiedet hätte, an der Stadt des 19. Jahrhunderts solle die Welt des 21. Jahrhunderts genesen. Doch er macht kein Dogma mehr daraus. Wo Kollhoff gegen die „IBA-Sozialisierten“ wetterte, war Lampugnani neugierig darauf, welche „Variationsmöglichkeiten“ seines Ideals der verdichteten, kompakten Stadt seinen Kollegen bei einer neuen Internationalen Bau-Ausstellung wohl einfielen. Wie mit dem Breitschwert hieb Kollhoff auf solche filigran gewobenen Argumente oder zerpflückte Lampugnanis Beispiele für geglückte Stadterneuerung. „Da ist keine Stadt herausgekommen“, schnaubte Kollhoff über Rafael Moneos Wirken in Barcelona: „Das sieht aus wie Kuala Lumpur“. Und als Lampugnani nonchalant bekannte: „Ich habe keine Probleme damit, dass die Mitte mal eine Zeit lang leer bleibt“, brach der ganze Horror Vacui einer verunsicherten Klasse aus Kollhoff: „Ohne so einen Halt kommt man nicht aus“, begründete er sein bedingungsloses Plädoyer für die klassische Stadt mit einem klar definierten Zentrum.

Doch auch wenn sich seine Stimme mehrmals überschlug: Auf die Zinnen der bürgerlichen Stadt lockt er derzeit niemand. Das „artikulierte Bürgertum“, das Kollhoff beschwor und dessen Vorschein er gar in den Protestierern gegen Stuttgart 21 ausgemacht haben wollte, hat sich wohlig in seine Townhouses zurückgezogen. Vor lauter Traditionsbeschwörung blieb die spannendere Frage, ob es in einer immer pluralistischeren Gesellschaft und einer Welt der wuchernden Megalopolen notwendig und Erfolg versprechend ist, die Stadt mit einem sozialen Magneten namens „Kern“ auszustatten, leider unerörtert. Befragt, ob der denn noch das Neue in der Architektur suche, wirkte der Kämpfer gegen das Appeasement mit der unseligen Postmoderne plötzlich müde: „Man orientiert sich halt am Bewährten.“ Der große deutsche Nachkriegsarchitekt Konrad Adenauer hätte gesagt: Keine Experimente!

■ Vittorio Magnago Lampugnani: „Die Stadt im 20. Jahrhundert. Visionen, Entwürfe, Gebautes“. Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2010, 912 Seiten, 2 Bde. im Schuber, 98 Euro, Subskriptionspreis bis zum 31. 1. 2011. Dann 124 €