Wandern durch Grenzgebiete der Töne

Von ehemaliger Musik-Avantgarde zum experimentellen Sound-Fluxus. Zum vierten Mal fand in Münster das biennale KlangZeit-Festival statt. Hier spannen die Künstler bereits neue Brücken über die zeitgenössische Musiklandschaft hinaus. Allerdings wollten nicht viele Zuhörer darüber gehen

VON HEIKO OSTENDORF

„Schau mal, wie viele junge Leute“, sagte einer der ins Innere strebenden Zuschauer. Eine sarkastische Feststellung. Es war das übliche Klassik-Publikum, das sich am ersten Tag des KlangZeit-Festivals ins Kleine Haus des Stadttheaters Münster schob. Schließlich spielte das örtliche Sinfonie Orchester zum Auftakt des fünftägigen Reigens zeitgenössische Musik von bekannten Namen wie Bernd Alois Zimmermann, Karlheinz Stockhausen oder John Cage. Und da wollte jeder gesehen werden.

Doch kaum erklangen die ersten Töne von Cages „Cheap Imitations“, schon döste hier und da im Publikum der ein oder andere Musikfreund ruhig vor sich hin. Glücklicherweise ohne zu schnarchen. Zwar hatte Dirigent Generalmusikdirektor Rainer Mühlbach noch vor der ersten Note die Anwesenden gewarnt, Cage könnte ihre ganze Ruhe und Meditationsfähigkeit in Anspruch nehmen. Umsonst, jeder hat eben eine andere Definition von Entspannung. Erst Bernd Alois Zimmermanns Trompetenkonzert mit Variationen über die Melodie des Spirituals „Nobody knows the trouble I see“ erlangte wieder Aufmerksamkeit.

Die Experimente kamen später. Am zweiten Tag, als Violinist Malcolm Goldstein, Urgestein der avantgardistischen Musik, mit seinen oft ins Anarchische abdriftenden Improvisationen das Motto dieser dritten KlangZeit wahr werden ließ: „Grenzgänge“. Nicht nur, dass sein drastisches Bearbeiten der Geige Hörgewohnheiten bis an die Grenze der Verzweiflung strapazierte. Auch die Verbindung von Volkslied und Blues mit zeitgenössischer, experimenteller Musik führt Zuhörer über Althergebrachtes hinaus. Goldstein schien in seinem Spiel auf der Suche nach einer Melodie, die irgendwo in diesem Chaos aus Kratzen und Scharren, aus Ploppen und Klopfen verborgen sein musste: Ein Volkslied aus Bosnien-Herzegowina kündigt der amerikanische Künstler vor Spielbeginn an. Die Suche beginnt als Trip ins Ungewisse und wird zur Reise durch Krieg und Zerstörung. In kleinsten Intervallen muss die Geige weinen, Goldstein entlockt ihr das Leid tausender Zivilisten. Ähnlich auch seine Komposition über Rosa Parks Weigerung, 1955 in Alabama einen für Weiße reservierten Sitz in einem Bus zu räumen und den darauf folgenden Boykott der Verkehrsmittel. In „My feet is tired but my soul is rested“, wird eine demonstrierende Frau zitiert, und Goldstein hat diesen Ausspruch zum Titel der Komposition gemacht. Im Spiel erlebte der Zuhörer diesen Zusammenbruch einer Gesellschaftsordnung noch einmal mit.

Eine Serie von Uraufführungen machte den Samstagabend zum Zentrum des biennalen KlangZeit-Festivals, das es seit dem Jahr 2000 in Münster gibt. Die beiden chinesischen Komponisten, Qin Wenchen, der für deutsche Ensembles bereits einige Auftragswerke schuf, und Hin-yan Chan, hatten eigens Stücke verfasst. Wie auch der in Wien lebende Taiwanese SHIH. In seinem „Ein Takt für neun“ verband er Tradition, Exotisches und Moderne, in dem er ein Instrumentarium bestehend unter anderem aus Viola da Gamba, Laute, Erhu und Pipa dissonante Klangkonstrukte aufbauen ließ.

Selbst die seit 40 Jahren als verschollen geltende Kunstrichtung Fluxus, mit ihren Happening ähnlichen Konzerten, zeigte sich hier erstaunlich lebendig: Die niederländische Künstlerin Mayke Nas ließ in ihrer Uraufführung „Anyone can do it“ sechs Personen auf der Bühne nach Anweisungen auf zwei Monitoren agieren. Sie trommelten mit ihren Fingern, stampften mit den Füßen. Die so zustande kommenden Rhythmen leben von der Spontanität der Protagonisten. Das bettete Stephan Froleyks in eine dichte und dramaturgisch zusammen gezurrte Kollage, aus der Christian Wolffs „Drinks“, bei dem die Musiker um einen Tisch stehend aus mit Mikrofonen ausgestatteten Wasserflaschen trinken, besonders hervorstach.

Auch wenn das bestens beworbene Festival überzeugte, enttäuschte doch Abend für Abend die Bereitschaft der Münsteraner, sich mit zeitgenössischer Musik auseinander zusetzten. Obwohl das Festival nach 2004, wo immerhin der mittlerweile zum gefragten Opernkomponisten aufgestiegene Brite Edward Rushton sein Werk noch persönlich präsentierte, künstlerisch noch Steigerungsfähigkeit bewies, fanden viele Konzerte in diesem Jahr eher vor spärlich gefüllten Stuhlreihen statt.