hegel und die stehpinkler von RALF SOTSCHECK
:

Die irischen Pubs sind nicht mehr das, was sie mal waren. Seit auf der Grünen Insel der Reichtum ausgebrochen ist, meinen die Wirte, sie müssten modernisieren und irgendwelchen Schnickschnack wie warme Mahlzeiten anbieten. Kartoffelchips, früher das einzige Nahrungsmittel zum Bier, sind verbannt, weil sie das Niveau des Etablissements angeblich senken. Außerdem krümeln sie, und den Bierdurst muss man mit der Salzware nicht mehr anheizen.

Iren trinken heutzutage Wein. Früher schafften 27 Iren gerade mal so viel Wein im Jahr wie ein Franzose. Inzwischen haben sie aufgeholt. Allerorten machen Weingeschäfte auf, in denen die Leute die Ware mit vornehm abgespreiztem kleinem Finger probieren dürfen. Nur „McGrath’s“ im Dubliner Arbeiterviertel Cabra hat sich nicht verändert.

Es ist eine Tränke, hier steht nach wie vor das Wesentliche im Mittelpunkt: so viel Bier wie möglich, bis der Zapfhahn versiegt. Weil es Vorschrift ist, gibt es auch Toiletten. Dort ist mir der Sinn des Wortes „Notdurft“ klargeworden: Man besucht den winzigen, zugigen Ort nur im äußersten Notfall. Wenn man sich ein wenig umschaut, findet man sogar ein Waschbecken, das so klein ist, dass man die Hände einzeln waschen muss. Dazu muss man sich aber erst an den Stehpinklern vorbeizwängen. Die sitzen, wenn sie nicht auf dem Klo stehen, am erhöhten Mitteltisch auf ihren Barhockern, weil sie es von dort nicht weit zur Theke haben. Es sind stets dieselben fünf Männer, sie starren schweigend auf den Fernseher in der Ecke. Doch wenn die Sperrstunde naht, bricht hektische Aktivität aus. Am Ende ächzt das Tischchen unter dem Gewicht von 20 großen Bieren.

Phil und Don sitzen hingegen in der Ecke neben der Tür. Phil ist immer als Erster betrunken. Selbst wenn er nüchtern ist, versteht man ihn nicht, weil er nuschelt, aber nach sieben Bieren ist es völlig unmöglich. Leider unterhält er sich für sein Leben gern. Um ihn nicht zu verärgern, muss man ab und zu mit dem Kopf nicken oder „Aha“ sagen.

Sein Freund Don redet auch sehr gern. Er ist stets gut gelaunt und spricht im Gegensatz zu John sehr deutlich. Aber der Sinn seiner Worte bleibt verborgen. Als wir ihn nach seinem Beruf fragen, kichert er zu unserer Überraschung eine Weile. Dann benötigt er 45 Minuten, bis wir begreifen, dass er Elektriker ist. Das muss ein lustiger Beruf sein. Eine halbe Stunde vor Kneipenschluss trifft George ein. Man kann die Uhr danach stellen. Wir machen uns möglichst klein, aber er bemerkt uns doch und knallt uns ein Hegel-Zitat an den Kopf. George ist Nachtwächter. Auf der Arbeit hat er sich Deutsch beigebracht, aber nicht mit irgendeinem Lehrbuch, sondern eben mit Hegel. Für jemanden, der noch nie im Ausland war, beherrscht er die Sprache ziemlich gut, wenn er auch altertümliche Wörter benutzt. Wenn man ihm eine Freude machen will, sagt man: „Ach ja, der gute alte Hegel.“ Dann kommt das nächste Zitat. Das geht so lange, bis man den Zapfenstreich verpasst hat, was aber nicht weiter schlimm ist. Die Kampftrinker vom Mitteltisch haben aufgrund ihres ausgeprägten Sicherheitsbedürfnisses wie immer zu viel Bier bestellt und geben daher gern ein paar Gläser ab.