AM KOTTBUSSER DAMM
: Unter Däumlingen

Zeitungen wären hier nur Geldverschwendung

Eine Tageszeitung? Die junge Frau mit dem französischen Akzent und der Pudelmütze hinter der Theke sieht mich mit verständnislosem Gesichtsausdruck an. Etwa so, als hätte ich an ihrer Kuchentheke einen Schraubenzieher verlangt. „Nein, eine Tageszeitung haben wir nicht.“ Unterton: Wieso auch?

Sie verweist auf eine geweißelte Sperrmüll-Kommode, auf der sich einige zerlesene Zeitschriften stapeln: ein paar Ausgaben von Vice, Brand Eins und Modezeitschriften, die meisten aus dem vergangen Jahr und mit Eselsohren. Wer in dem Café auf der Nord-Neuköllner Pannierstraße etwas Aktuelles lesen will, muss es sich schon selbst mitbringen.

So trennt der Kottbusser Damm nicht nur Kreuzberg von Neukölln, sondern auch Altberliner von der Neuberliner Café-Kultur. Auf der Kreuzberger Seite gehört zur Inneneinrichtung eines Cafés der Tagesspiegel, vielleicht auch die taz, die Berliner Zeitung oder die Zeit – eventuell sogar in Zeitungshaltern in einem designierten Ständer. Auf der anderen Seite des Kottbusser Damms, in der Gegend, die erst in den letzten Jahren von Hipstern aus der ganzen Welt erschlossen wurde, gibt es nichts dergleichen.

Hier betreten wir das Reich der „Däumlinge“, wie sie der französische Philosoph Michel Serres in seinem im vergangenen Jahr auf Deutsch erschienenen Buch „Erfindet euch neu!“ genannt hat. Diese Spezies blättert sich nicht mehr durch Papierseiten, sondern wischt mit dem Daumen über Monitore.

Wenn diese Klientel liest, dann auf dem Bildschirm eines Laptops, Tablets, Smartphones. Aber meistens liest sie gar nicht, sondern tippt und klickt und wischt. Da Zeitungen an die Wand zu hängen wäre nur Geldverschwendung. Die Kundschaft erwartet das in diesem Teil der Stadt genauso wenig wie eine Bedienung, die zu ihr an den Tisch kommt. TILMAN BAUMGÄRTEL