Einzelkampf in Guantánamo

Die Egon Erwin Kischs des digitalen Zeitalters: Zum „3. International Video Journalism Award“ trafen sich am Wochenende Videojournalisten – kurz: VJs – aus aller Welt

Die Inselkette Tuvalu liegt nördlich von Neuseeland im Pazifik. Bekannt wurden Tuvalu und seine 11.000 Einwohner durch das Internet-Länderkennzeichen „.tv“: Der Verkauf der Rechte brachte angeblich 50 Millionen US-Dollar. Doch wer verdiente daran wirklich?

Vanessa Nikisch machte sich für das Schweizer Fernsehen auf die Reise. Allein. Nur mit einer kleinen Videokamera im Gepäck. Sie ist Videojournalistin (VJ) – und damit eine journalistische Triathletin. Sie recherchiert, dreht und schneidet ihre Filme selbst.

Am Wochenende trafen sich Einzelkämpfer wie Vanessa Nikisch zum „3rd International Video Journalism Award“ in Berlin. Eine internationale Jury begutachtete 420 dokumentarische Kurzfilme, journalistische Fernsehbeiträge und Reportagen aus 42 Ländern. Das Festival, das unter anderen von der Deutschen Welle, dem Hessischen Rundfunk und der Bauhaus-Universität Weimar getragen wird, ist nach zwei Auflagen in Weimar in der Hauptstadt angekommen.

Vanessa Nikisch gewann mit ihrem Beitrag über die Insel, die ihren Namen verkaufte, die Kategorie „German TV“. Die Jury lobte die „VJ-typische subjektive Erzählweise“ ihres Films, der von der ersten Minute an eine spannende Eigendynamik entwickelt – denn die Autorin ist Teil der Handlung.

Videojournalismus wird immer populärer: In Deutschland arbeiten derzeit etwa 1.000 VJs, schätzt „VJ Award“-Kuratorin Sabine Streich. Im Gegensatz zu herkömmlichen TV-Teams mit Reporter, Kameramann und Tontechniker sind Videojournalisten, die Streich gern als „Egon Erwin Kischs des digitalen Zeitalters“ bezeichnet, mit ihrer Handkamera allein unterwegs. Nicht zuletzt deswegen haftet ihnen das Etikett des Billigjournalismus an. Dabei macht es technisch längst keinen Unterschied mehr. Wenn doch, macht die gesteigerte Authentizität verwackelte Bilder, mindere Tonqualität und schlecht ausgeleuchtete Szenen häufig wett.

Guantánamo – What the world is allowed to know“ von Stephan Bachenheimer ist so ein Film. Der Sieger in der Kategorie „Reportage“ nutzte zwei Vorteile des Videojournalismus für seinen 16-Minuten-Streifen über das umstrittene US-Gefangenenlager. Erstens die Nähe: Während ein komplettes Kamerateam oft für Misstrauen sorgt, verlieren Menschen bei einer kleinen Kamera schneller ihre Scheu. Zweitens das geringe Produktionsrisiko: Ein VJ kann sich aufgrund der kostengünstigeren Produktion auch Themen abseits des Mainstreams widmen. Und sich länger als die üblichen ein, zwei Drehtage auf eine Geschichte einlassen.

So geschehen beim unkonventionellen Wettbewerbsbeitrag „Platte machen“ von Ina Reuter und Marko Rösseler, der mit dem Spezialpreis der Jury bedacht wurde. Die beiden WDR-Reporter lebten eine Woche lang mit Obdachlosen in der Vorweihnachtszeit auf der Straße.

Aus Nairobi kam der Gewinner der Kategorie „International Award“ eingeflogen. Ruud Elmendorp nimmt in „I am Joseph Kony“ die Zuseher in bester Reportermanier mit zu Rebellenführer Joseph Kony in den kongolesischen Dschungel, wo dieser sich seit zwei Jahrzehnten versteckt und gegen die Regierung Ugandas kämpft. Kony verantwortet den Tod von zehntausenden Menschen und die Vertreibung von 1,6 Millionen Einwohnern.

Dieser Film, Joseph Konys erster öffentlicher Auftritt seit 20 Jahren, ist ein weiteres Beispiel für die spezifischen Vorteile des Videojournalismus: „Der Dreh war nur mit der kleinen Kamera möglich“, erklärt Ruud Elmendorp. „Ein großes Team und eine große Kamera hätte ich dort niemals einschmuggeln können.“

MARTIN LANGEDER