Wie Egon „schwer vermittelbar“ wurde

In unserer Reihe „Agronauten“ fragen wir: Sind Sie bereit fürs Land? Auch fürs wiedervereinigte Deutschland?

Schon Ende 1989 griff ein wahres Start-up-Fieber um sich. In der Fahlhorster Rindermastbrigade der LPG „Florian Geyer“ war es unser Kollege Egon, der in den Pausen als Erster anfing, alle möglichen Existenzgründungs-Ideen zur Diskussion zu stellen. Das reichte von einem Imbissstand am Badesee bis zum Getränke- und Eisverkauf von seinem Wohnzimmerfenster aus.

Egon wohnte im schlechtesten Haus der LPG, gleich neben der Schweinemast an der Dorfstraße. Immerhin besaß er ein großes Grundstück, auf dem er Blumen und Gemüse anbauen wollte, es glich jedoch noch einem Schrottplatz. Schon vor der Wende hatte Egon sich in diversen Nebenerwerben versucht: Autos repariert, Einwegfeuerzeuge wiederaufgefüllt und auf den Westmüll-Kippen des Kreises Betten und Kissen gesammelt, deren Inhalt er reinigte und weiterverkaufte. Bevor er wegen seiner angegriffenen Gesundheit zur LPG kam, hatte der gelernte Streckenarbeiter lange Jahre in Bahnhofsrestaurants gekellnert.

Nachdem all die halbherzigen Versuche, die LPG als Ganzes in die neue Marktwirtschaft „rüberzuretten“, so gut wie gescheitert waren, gehörte Egon dann mit zu den Ersten, die konkrete Schritte unternahmen, sich neue Erwerbsmöglichkeiten zu schaffen. So sammelte er z. B. allen Autoschrott in seinem Garten zusammen und versuchte anschließend, diese als „Ersatzteile“ in der Potsdamer Fußgängerzone zu verkaufen.

Das Ganze war jedoch ein „Minusgeschäft“. Obwohl er immer der Fleißigste und Pünktlichste in der Brigade gewesen war, entließ ihn die LPG-Leitung als Ersten! Er konnte es zuerst gar nicht fassen, dann begann er aber, mit seinem alten gelben Škoda die Umgebung abzuklappern. Schon bald gewann er Gefallen an diesen Ausflügen, sein Aktionsradius wurde immer größer.

Schließlich nahm er in einem Steglitzer Hotel einen Job als Reinigungskraft an. Erst als er diese „West-Anstellung“ wieder – wegen zu geringer Bezahlung – hinschmiss, sagte man ihm, dass das Kleingeld auf den Kissen sein Trinkgeld gewesen war: Er hatte es stets unangetastet gelassen, im Glauben, man wolle damit nur seine Ehrlichkeit testen.

Danach fing er als Detektiv beim ersten Heimwerkermarkt in Teltow an – wieder scheiterte er in gewisser Weise an seiner Ehrlichkeit: Er erwischte einen Familienvater mit acht PVC-Rohren. Der Mann ging in seiner Not zum West-Geschäftsführer und der ließ sich erweichen: Der Kunde sei noch nicht mit dem neuen West-Kassensystem vertraut gewesen. Egon empfand das als Ost-Schmähung, wurde barsch – und gefeuert.

Einmal zechte er zufällig mit einem Außendienst-Mitarbeiter des „Heideparks Soltau“. Dieser bat Egon daraufhin, ein Werbeschild in seinem Garten aufstellen zu dürfen. Egon bekam dafür zwei Freikarten für den Vergnügungspark – inklusive Hin- und Rückfahrt.

Man wurde mit dem Bus – von Potsdam aus – abgeholt. Egon nahm seine Frau Anneliese mit. Die Fahrt nach Soltau war mit einer Verkaufsveranstaltung für Rheumadecken und Billigwerkzeuge verbunden. Egon erwarb einen Radiowecker – und gewann dazu eine weitere Busreise für zwei Personen: diesmal nach Spanien. Auf dieser Fahrt begann er, sich zu langweilen, und bat den Busfahrer, sich nützlich machen zu dürfen: Er servierte fortan im Bus Kaffee und belegte Brötchen. Dafür brauchte er selbst nichts zu zahlen. An der Costa del Sol langweilte er sich wieder – und half im Hotel-Frühstücksraum aus.

Anneliese, die schon im Jahr davor ihren Job als Putzfrau verloren hatte, drängte ihn nach seiner Rückkehr, sich arbeitslos zu melden. Er ging zum Arbeitsamt. Die verlangten erst einmal Nachweise für sämtliche Tätigkeiten ab der Wende. Und dann bekam er von seinem Sachbearbeiter gesagt, wegen seiner vielen Jobwechsel sei er nun nur noch „schwer vermittelbar“.

Nachdenklich und ratlos sitzt er nun auf der Veranda seiner Bruchbude in der Sonne: „Was für ein Beschiss!“, schimpft er: „Da raten sie einem immer, dass man sich selbst um einen Arbeitplatz kümmern soll; und wenn man das tut, muss man sich hinterher anhören, man hätte zu viel gearbeitet!“ HELMUT HÖGE