Aufstand der Taliban

Soll die Bundeswehr ihre Soldaten in den umkämpften Süden Afghanistans schicken? Lieber sollte die Bundesregierung auf einen politischen Kurswechsel im Land drängen

Das Wiedererstarken der tot geglaubten Taliban geht auch auf Fehler der westlichen Staaten zurück

Die Affäre um die Totenschädel-Fotos junger Bundeswehrsoldaten hat in den letzten Tagen die eigentliche Frage in den Hintergrund gedrängt, vor der die Bundesregierung derzeit in Afghanistan steht: Soll sie Soldaten in den Süden des Landes senden und sich direkt an den Kämpfen gegen den Aufstand beteiligen, der dort von den Taliban angeführt wird? Das jedenfalls verlangen die Nato-Vebündeten – manche öffentlich, andere diplomatisch verbrämt.

Weder die deutsche Öffentlichkeit noch die Soldaten scheinen darauf vorbereitet zu sein, dass solch ein Einsatz auch Todesopfer mit sich bringen könnte. Doch es gibt Bündnisverpflichtungen, denn Deutschland ist Nato-Mitglied und hat die Ausweitung der Out-of-area-Einsätze mitgetragen. Nun sehen US-Amerikaner, Niederländer und Kanadier nicht länger ein, warum nur ihre Soldaten in Afghanistan den Kopf hinhalten sollen. Seit langem schon monieren sie hinter vorgehaltener Hand, dass sich die Deutschen im angeblich sicheren Norden, in der Region um die Städte Mazar-e Scharif und Kunduz herum, verschanzt haben.

Verpflichtungen bestehen aber auch gegenüber den Afghanen. Erst Kommunisten, dann Mudschaheddin und schließlich die Taliban haben das Land immer tiefer im Elend versinken lassen. Nach dem Fall des Taliban-Regimes vor fast genau fünf Jahren begrüßte eine übergroße Mehrheit der afghanische Bevölkerung das zivile wie militärische Engagement des Auslands: Lieber wollte sie fremde Soldaten im eigenen Land sehen, als erneut der Herrschaft der Milizen ausgeliefert zu sein, die das Land in den Jahren von 1992 bis 1996 mit ihren Gemetzeln für die Übernahme der Taliban erst reif geschossen hatten.

Genau so aber kam es. Die Nachkriegsordnung machten eine bewaffneten Kriegspartei – die Nordallianz früherer Mudschaheddin – und eine Exilgruppe um den greisen Exkönig Sahir Schah unter sich aus. Als Alibi wurden zwei weitere Gruppen beteiligt, doch bis heute dominieren die Mudschaheddin. Das haben sie den USA zu verdanken, die den Kämpfern der Nordallianz grünes Licht für den Einzug nach Kabul gaben – entgegen früheren Abmachungen, nach denen die afghanische Hauptstadt neutral bleiben sollte. Und es waren auch die USA, die den späteren Präsidenten Hamid Karsai ins Spiel brachten: Zunächst war er nicht viel mehr als ein Feigenblatt für die Nordallianz, die sich denn auch vehement für ihn stark machte.

In einem makabren Zirkelschluss gelangten somit in Kabul all jene wieder an die Macht, die nach dem Abzug der Sowjets alle Hoffnungen der Afghanen in Blut ertränkt hatten. Deutschland spielte dabei eine besondere Rolle: Nicht nur, weil es Ende 2001 als Gastgeber der Konferenz auf dem Petersberg fungierte, die Afghanistans Nachkriegsordnung besiegelte. Auf Betreiben der USA blieben damals alternative Kräfte – nicht bewaffnete Demokraten aus Untergrund und Exil – vor der Tür.

Wenn der Grundstein schief liegt, kann die Mauer nicht gerade werden, lautet ein afghanisches Sprichwort. Hamid Karsai, selbst unbeteiligt am Krieg der Mudschaheddin-Fraktionen und zunächst sehr beliebt, vermochte es nicht, seine immer wieder verkündete Reformagenda in Gang zu setzen und sich aus der Umarmung der Mudschaheddin zu befreien, die ihm der Westen als Verbündete vorgesetzt hatte. Weil es nie zu einer landesweiten Entwaffnung der Milizen kam, konsolidierten sie ihre Macht durch den Zugang zu öffentlichen Ressourcen und zu Drogengeldern, die sie in der legalen Wirtschaft weiß waschen.

Heute sind Regierung, Polizei und Justiz in Afghanistan von Korruption durchdrungen und höchste Stellen in den Drogenhandel verstrickt, doch niemand unternimmt etwas dagegen. Auch bei der Verwendung der ausländischen Hilfsmilliarden fehlt es an Transparenz und öffentlicher Kontrolle. Gleichzeitig blockieren die fundamentalistischen Mudschahedsin jede gesellschaftliche Öffnung. Unter Berufung auf den Islam versuchen sie sich eine Legitimation zu verschaffen, die sie nach den Massakern der Neunzigerjahren in den Augen vieler Afghanen längst verloren hatten.

Dies alles hat zu einer Vertrauenskrise geführt, die nicht nur Karsais Regierung betrifft, sondern auch die „internationale Gemeinschaft“. Das verschafft den regierungsfeindlichen Militanten Zulauf nicht nur von ideologisierten Koranschülern, sondern auch von zutiefst unzufriedenen Afghanen. Das Wiedererstarken der Taliban, seit Ende 2001 geschlagen und tot geglaubt, ist auch das Resultat einer teilweise fehlgeleiteten Politik der westlichen Staaten.

Jetzt Bundeswehrsoldaten in den afghanischen Süden zu verlegen, wäre in dieser Situation blinder Aktionismus. Dort könnten sie nur mehr von dem tun, was die US-geführte Koalition – und jetzt die Isaf-Truppen unter Nato-Befehl – dort schon anrichten – also die Taliban bombardieren und dabei häufig genug Zivilisten treffen, die von den Taliban an der Flucht aus ihren Dörfern gehindert werden. Der Teufelskreis wird so nicht durchbrochen. Lieber sollte die Bundesregierung die Forderung der USA nach mehr militärischer Unterstützung zum Anlass nehmen, in Abstimmung mit ihren europäischen Partnern auf einen Politikwandel in Afghanistan zu drängen. Gleichzeitig sollte sie sich lösbare und strategisch wichtige Aufgaben vornehmen. Eingebettet in ein breites und möglichst multilateral finanziertes Entwicklungskonzept, könnte sie zum Beispiel Bundeswehrtruppen in den Südosten entsenden. Das wäre schon 2003 eine Option gewesen. Diese drei Provinzen, strategisch zwischen dem unruhigen Süden und der Hauptstadt Kabul gelegen, werden von zentral geführten Paschtunenstämmen besiedelt, die sich traditionell als Träger der Zentralregierung betrachten. Trotz eines klandestinen Netzwerks können die Taliban dort bisher nicht im gleichen Ausmaß wie im Süden agieren. Vor allem aber steht Deutschland dort wegen seiner anerkannten Entwicklungszusammenarbeit in der Vorkriegszeit bis heute in hohem Ansehen.

Mudschaheddin und Exilkönig machten die Nachkriegsordnung einst unter sich aus. Das rächt sich jetzt

Mit diesen Stämmen könnte man Gespräche aufnehmen, Entwicklungsziele festlegen und sie zu einer Sicherheitspartnerschaft bewegen. Für ein solches Vorgehen gibt es bereits Beispiele. Doch einzelne „Leuchtturm“-Projekte, die eher der PR dienen als das Leben der Bevölkerung verändern, reichen nicht aus. Benötigt wird vielmehr massive, qualitativ hochwertige und schnelle Hilfe, die die Afghanen davon überzeugt, dass die internationale Gemeinschaft es mit ihren Milliardenzusagen von Bonn, Tokio und London wirklich ernst meint. Der Ökonom Sébastien Trives, bis vor kurzem für die UN in dieser Region aktiv, hat errechnet, dass pro Provinz und Jahr ungefähr 10 Millionen Dollar nötig wären.

Ohne Risiko für Leib und Leben wird auch dieser Einsatz nicht mehr zu haben sein. Die Alternative aber wäre, den bewaffneten islamistischen Fraktionen von Taliban und Mudschaheddin ganz das Feld zu überlassen.

THOMAS RUTTIG