Wer hat hier versagt?

VOLKSBÜHNENBEWEGUNG Mehr Kultur, mehr Gerechtigkeit: An die Ideale der vor 120 Jahren gestarteten Volksbühnenbewegung erinnert am Sonntag ein Festakt in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz

VON ESTHER SLEVOGT

Es war einmal eine stolze Forderung: Die Kunst dem Volk! Ab 1914 prangte sie in Stein gemeißelt über dem Neubau der Volksbühne am heutigen Rosa-Luxemburg-Platz, der damals noch Bülowplatz hieß. Die deutsche Sozialdemokratie knüpfte an diese Forderung die Hoffnung, das Proletariat durch Bildung zu emanzipieren und aus der politischen Unmündigkeit zu befreien. Und zwar mit dem Ziel, an der Macht im Staat beteiligt zu werden oder sie gar zu übernehmen.

Schon im 19. Jahrhundert waren Arbeiterbildungsvereine entstanden, die als Stätten des Umsturzes und der anarchistischen Konspiration von der preußischen Polizei immer wieder verboten wurde. Deswegen hatten sie bald unverfängliche Namen, hinter denen nichts Böses vermutet werden konnte. Einer dieser Vereine hieß „Alte Tante“ und war die erste Zelle einer Bewegung, die das Theater zur Sache des Volkes machen wollte: durch billige Eintrittskarten sollte auch den Unterschichten der Zugang zu den Tempeln des Bürgertums ermöglicht werden. Und die verhandelten Stoffe sollten den Lebenswelten der Arbeiter entstammen. Deshalb entstand mit dem Naturalismus bald eine Theaterform, die Schluss machte mit dem bildungsbürgerlichen Deklamationstheater. In den 20er Jahren übernahm das Theater dann neben der Arbeiterbildung auch den Auftrag zu Agitation und Propaganda für eine gerechtere Gesellschaftsform.

Wie ein Versprechen

Die Gründung der Volksbühnenbewegung ist inzwischen 120 Jahre her. Längst sind Zeiten angebrochen, in denen das Volk sich eher von der Bühne wegbewegt. Am Sonntag erinnert in der Volksbühne ein Festakt an die Gründung der Volksbühnenbewegung im Jahr 1890 – in jenem Monumentalbau also, den die Bewegung zwanzig Jahre nach ihrem Anfang errichten ließ, um für ihre Projekte nicht mehr von der Gunst privater Theaterunternehmer abhängig zu sein.

Allerlei Festvorträge werden über das Publikum niederprasseln, auch von der Berliner Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte, die sich mit Formen des politischen Theaters befassen wird: es ging aus der Volksbühnenbewegung hervor. Abends kann man Frank Castorfs Inszenierung von Walter Mehrings Berliner Weltwirtschaftskrisenstück „Der Kaufmann von Berlin“ betrachten, das den Shakespeare’schen Shylock-Stoff in die Krisenjahre um 1929 und das Scheunenviertel überträgt: Das lag bei der Volksbühne gleich um die Ecke, arme jüdische Migranten aus Osteuropa lebten dort. Über dem Scheunenviertel erhob sich, wie auch über den anderen angrenzenden Arbeiterquartieren, der monumentale Volksbühnenbau damals noch wie ein Versprechen.

Inzwischen ist die Utopie „Die Kunst dem Volk“ schwer angejahrt, die sich so niemand mehr auf die Fahnen schreibt. Denn wer soll das Volk heute sein, dem vor hundertzwanzig Jahren noch der Weg in die Theater geebnet werden sollte, auf dass es über moralische und ästhetische Erziehung den Ausgang aus seiner Unmündigkeit finden werde? Sind das die, die sich inzwischen lieber von Supernannys erziehen und von Verona Feldbusch Spießerwohnträume erfüllen lassen und die eigene Unzulänglichkeit höchstpersönlich in Nachmittagstalkshows bloßstellen? Muss man deshalb die Beziehung zwischen Kunst und Volk im Grunde als gescheitert betrachten?

Noch gibt es in Deutschland mehr Theater als in jedem anderen Land. Viele von ihnen kämpfen inzwischen ums Überleben, sind zunehmend gezwungen, den Beweis ihrer gesellschaftspolitischen Relevanz zu erbringen, um überhaupt noch das Geld zu legitimieren, das sie aus Staatskassen erhalten. Dass das Volk nicht mehr kommt, liegt stets als schwerer Vorwurf in der Luft. Längst ist die Befürchtung da, dass es bald mehr private TV-Sender als Theater selbst in diesem Land geben wird. Ja, dass das Volk, also wir, eines Tages mit dem Privatfernsehen alleine sein wird.

Das Volk, das faule

Wer hat hier versagt? Die Kunst? Die Künstler? Oder wir, also das Volk, das faule, das sich nicht bilden, sondern immer bloß unterhalten will? Oder ist am Ende vielleicht das ganze Konzept verkehrt, weil sich in Kollektiven nun mal nicht denken und erst keine Kunst machen lässt?

Die Losung „Die Kunst dem Volk“ wurde in den frühen fünfziger Jahren übrigens weggelassen, als die junge DDR die kriegszerstörte Volksbühne wieder aufbaute und beim Innenausbau auch jede Menge Marmor aus Hitlers Reichskanzlei verwandte. Das war just in jenen Jahren, als der Arbeiter-und-Bauern-Staat mit den Künstlern darüber stritt, wie die Kunst am besten ans Volk gebracht werden könnte, und im Zuge dessen alles verbot, was die Erreichung dieses Ziels zu unterwandern schien. Aber gerade durch die Verbotskultur konnte auch in der DDR nicht zusammenwachsen, was so dringend zusammengewünscht wurde.

Das Volk ist tot. Es ist nicht mehr klar, wer damit adressiert wird. Es lebe das Publikum. Gründen wir als Nächstes lieber eine Publikumsbewegung.

■ Sonntag, 14 Uhr, Festakt „120 Jahre Volksbühnenbewegung“ in der Volksbühne. 18 Uhr „Der Kaufmann von Berlin“