Was bleibt, ist die innere Arbeit

KLASSIKER Vor hundert Jahren starb Lew Tolstoi. Mit seinen grübelnden Männern und verwirrten Frauen ist der Autor von „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“ aktuell wie nie

Wer „Krieg und Frieden“ noch nicht im Regal stehen hat, sollte sich jetzt die Neuübersetzung von Barbara Conrad im Hanser Verlag kaufen. Eine schöne Ausgabe und sehr lesefreundliche, dabei Tolstoi nicht glättende Übersetzung. 2 Bd, zus. 2.290 Seiten, 58 Euro, die sich unbedingt lohnen!

„Anna Karenina“ erschien 2009 in der empfehlenswerten Neuübersetzung von Rosemarie Tietze, auch im Hanser Verlag, 1.285 Seiten, 39,90 Euro

Als Begleitlektüre empfiehlt sich der Briefwechsel zwischen Lew Tolstoi und seiner Frau Sofja Tolstaja: „Eine Ehe in Briefen“, soeben im Insel Verlag erschienen, 494 Seiten, 22,90 Euro. Die Briefe lesen sich wie eine innere Biografie dieses Paares. Sehnsucht, Streit: Es war was los in dieser Ehe!

■ Und eine interessante Studie über Tolstois lebenslange Sinn- und Gottsuche ist Martin Tamckes Buch „Tolstojs Religion“, soeben im Insel Verlag erschienen, 154 Seiten, 17,90 Euro.

VON DIRK KNIPPHALS

Auf Seite 422 des ersten Bandes von „Krieg und Frieden“ (in der gerade erschienenen, wunderbaren Neuübersetzung von Barbara Conrad) soll der Kavallerieoffizier Nikolai Rostow von der Schlacht erzählen. Heraus kommt eine dieser vielen, vielen Szenen aus den dicken, alten Büchern Lew Tolstois, die einem beim Lesen sofort ganz frisch vor Augen stehen – und die man dann nicht nur im Herzen bewahren möchte, sondern die einen auch ganz fiebrig vor Erkenntnisschauern machen.

Und zwar nimmt sich dieser Nikolai Rostow vor, die Wahrheit zu erzählen. Aber das klappt nicht. „Er begann in der Absicht zu erzählen, alles genau so zu erzählen, wie es war, ging aber unmerklich für sich selbst, unwillkürlich und unvermeidlich zur Unwahrheit über.“ Der selbstreflexive Dreh, den Tolstoi dieser Szene gibt, ist nun überaus modern. Keineswegs ist sein Rostow ein bewusster Lügner. Er war bei der Kavallerieattacke ungeschickt vom Pferd gefallen, hatte sich die Hand verstaucht und war dann vor den Franzosen in den Wald geflüchtet. Aber das verschweigt er nicht aus Eitelkeit. Es sind die vorgegebenen Erzählmuster, gegen die sich zu stemmen er nicht die Kraft hat.

Tolstoi: „Er erzählte ihnen seine Schlacht bei Schöngrabern ganz und gar so, wie gewöhnlich an der Schlacht Beteiligte erzählen, das heißt so, wie sie wünschten, dass es so gewesen wäre, so, wie sie es von anderen Erzählern gehört haben, und so, wie es schöner zu erzählen wäre, aber überhaupt nicht so, wie es wirklich war.“ Die Zuhörer, bedeutet das, haben ihre eigenen Erwartungshaltungen, und Abweichungen davon werden womöglich gar nicht geglaubt. Das macht das Erzählen prinzipiell kompliziert. Gleich darauf heißt es an dieser Stelle so schlicht wie tief: „Die Wahrheit zu erzählen ist sehr schwer.“

Lew Nikolajewitsch Tolstoi, der vor hundert Jahren am 20. November 1910 starb, macht alles andere, als so zu erzählen, wie irgendjemand sich wünschte, dass es so gewesen wäre, oder wie er es von anderen Erzählern gehört hat. Dennoch ist die Rolle dieses Klassikers im literarischen Kanon nicht ganz eindeutig. „Anna Karenina“, sein nach „Krieg und Frieden“ zweiter großer Roman, wird in den Literaturgeschichten zuverlässig als einer der großen Ehebrecherinnenromane des 19. Jahrhunderts genannt, zusammen mit Gustave Flauberts „Madame Bovary“ und Theodor Fontanes „Effi Briest“. Aber während Flaubert – neben Joseph Conrad und Herman Melville – unangefochten als heroischer Gründervater der literarischen Moderne gilt, wird Tolstois Wille zum epischen, wahrhaftigen Erzählen oft noch mindestens halb als traditioneller und irgendwie naiver Realismus gewertet. Bei aller Verehrung, etwas Urgroßväterliches haftet seinen Büchern an.

Schon das ist aber unfair. Denn es ist wirklich erstaunlich, wie viel uns dieser herrische, vom Charakter her schwierige und Zeit seines Lebens sinnsuchende russische Graf, der ein so ausschweifendes Leben führte, aber auch ein so disziplinierter Autor war, heute noch zu sagen hat, über alle zeitlichen, gesellschaftlichen und literaturtheoretischen Entfernungen hinweg.

Warum ist das so? Zum einen liegt das an den Details, wobei es gar nicht um deren Fülle geht. Tolstoi, der geniale Menschenbeobachter, ist ein Meister des einen sprechenden Details, das genau im richtigen Moment aus dem Erzählstrom hervorleuchtet. Als Anna Karenina, schon verliebt in Wronskij, aber noch bevor die Affäre wirklich begonnen hat, auf dem Bahnhof ihren Mann trifft, der sie abholt, denkt sie als Erstes: „Ach, mein Gott! Woher hat er nur diese Ohren?“ Schon dieses eine Detail macht vollkommen klar, dass die Ehe zum Scheitern verurteilt ist. Der Schriftsteller Dieter Wellershoff merkt im Tolstoi-Kapitel seiner beeindruckenden Studie „Der verstörte Eros“ übrigens noch an, dass es „Tolstois eigene große, lappige Ohren“ seien, mit denen er Annas Mann ausgestattet habe. Wellershoff: „Er mochte sie wohl selber nicht.“

Krieg, Liebe, Politik

Zum anderen liegt die Nähe daran, dass Tolstoi im Vollzug des Erzählens immer auch an den Erzählmustern gearbeitet hat. Wahrhaftiges Erzählen war für ihn innovatives Erzählen, nicht um der Innovation, sondern um der Kraft und Lebendigkeit des Beschreibens willen.

Ich ist ein Anderer – dieses Pathoswort der Avantgarde ist bei Tolstoi längst schon literarisch gestaltet

In einem der Höhepunkte von „Anna Karenina“ beschreibt Tolstoi etwa das Pferderennen in Krasnoje Selo, bei dem Wronskij stürzt, von vorn bis hinten durch – eine der wahrscheinlich spannendsten Rennbeschreibungen aller Zeiten. Dann spult er die Handlung gewissermaßen zurück und schildert das Rennen noch einmal, nun aus der Perspektive Annas, die nur Augen für Wronskij hat, und parallel dazu aus der Perspektive ihres Mannes, der seinerseits nur Anna beobachtet. Das ist gewiss kein naiver Realismus. Sondern es zeigt, wie komplex Tolstoi sein Vorhaben angeht, wahrhaftig von Figurenkonstellationen zu erzählen, und welche einleuchtenden Lösungen er dafür findet (ein heutiger Kinoregisseur hätte einen Split Screen verwendet).

Die strikte Perspektivierung des Erzählens gilt als Tolstois weltliterarische Leistung. Am offenkundigsten hat er das bei den Schlachtszenen gestaltet. Es existiert bei ihm kein Ort des Überblicks mehr, von dem aus man das Ganze einer Schlacht ins Auge nehmen könnte. Was es gibt, ist ein wimmelndes, unübersichtliches Geschehen – und dann die Erzählungen darüber aus den jeweiligen Perspektiven der handelnden Personen. Selbst die Frage, wer eine Schlacht gewonnen und wer sie verloren hat, wird oft erst später in den Erzählungen über sie entschieden.

Aber auch bei seinen anderen beiden großen Themen – neben dem Krieg sind das die Liebe und die Politik beziehungsweise die Gesellschaft – gibt es keinen zentralen Ort. Überall ist Pulverdampf, überall Unübersichtlichkeit. Für alle Bereiche gilt, was Anton Tschechow von Tolstoi lernen wird: „Niemand kennt die ganze Wahrheit.“

Diese Perspektivierung dreht Tolstoi so weit, dass er, berühmte Szene, die Beratungen im Armeehauptquartier aus der Blickrichtung eines Bauernmädchens schildert oder, eine Lieblingsszene, den Aufbruch zur Jagd aus den Augen der aufgeregten Hündin Laska beschreibt. „Wie es wirklich war“, kann auch Tolstoi nicht erzählen, niemand kann das; aber Tolstoi hat seinen Wahrheitsanspruch konsequent in eine Haltung der erzählerischen Wahrhaftigkeit übersetzt.

Noch größeren Eindruck beim heutigen Lesen macht aber, dass das alles auch für das Innenleben der Figuren gilt. „Ich ist ein Anderer“, dieses Pathoswort der Moderne, ist bei Tolstoi längst schon literarisch gestaltet, und zwar anhand von Figuren, die keineswegs Außenseiter, sondern erfolgreiche Mitglieder der Gesellschaft sind.

Niemand ist bei Tolstoi mit sich selbst identisch (manche, wie etwa der als großer Selbstdarsteller beschriebene Napoleon, können höchstens so tun, als ob sie es seien). Auch über sich selbst kennt keiner die ganze Wahrheit, gerade deshalb wird die Suche nach ihr zum zentralen Handlungsantrieb. Viel Aufhebens wird immer um die „heiligen“ Stellen gemacht, um die Episoden, in denen die Figuren ein mythisches Sicheinsfühlen mit sich selbst und der Welt empfinden – berühmt: Andrejs Entdeckung, „wie hoch der Himmel ist“, als Verwundeter in Austerlitz in „Krieg und Frieden“ oder Lewins Epiphanien während der Heuernte in „Anna Karenina“.

Erzählen muss für ihn innovativ sein – nicht um der Innovation, sondern um der Lebendigkeit willen

Die Tolstoi-Erfahrung

Diese Stellen sind ja auch toll; aber wer sie überbetont, verfehlt die eigentliche Pointe. Ein, zwei Kapitel später sind die Figuren dann nämlich schon wieder mit sich selbst zerfallen. Liebe ich wirklich? Führe ich ein gutes Leben? Lebe ich so, wie ich leben will? Mit diesen großen, bohrenden Fragen werden seine Hauptfiguren nie fertig. Ihren Selbstentwürfen und Selbstverfehlungen auf das Genaueste zu folgen, macht das eigentliche epische Tolstoi-Leseerlebnis aus (eine Erfahrung, die man in aktuellen HBO-Fernsehserien wiederfinden kann; das gewissenhafte Interesse an Lebensläufen scheint sich hierhin vererbt zu haben).

Am Grad der Wahrhaftigkeit, mit der sich die Figuren diesen Fragen widmen, lässt sich eine Rangfolge nachzeichnen. Jemand wie Rostow, der vorgegebenen Erzählmustern aufsitzt, findet eben auch keine individuellen Wege, sich selbst sein eigenes Leben zu erzählen. Die Liebe zwischen Anna und Wronskij scheitert zuallererst keineswegs, wie das „Anna Karenina“-Klischee es will, an der Borniertheit der Gesellschaft, sondern daran, dass sie keine gemeinsamen Antworten auf diese Fragen finden. Und am differenziertesten und zugleich am wärmsten werden gerade die zergrübeltsten Figuren gezeichnet: Pierre in „Krieg und Frieden“ und Lewin in „Anna Karenina“.

Gerade in seinen grübelnden Männern und verwirrten Frauen ist uns Tolstoi bis heute nahe. Von der „inneren Arbeit“ seiner Figuren spricht der Erzähler in „Krieg und Frieden“. Nur durch sie können die Figuren in der allgemeinen Unübersichtlichkeit Ordnung schaffen, jeweils nur für sich und stets nur auf Zeit. Und in der Wahrhaftigkeit, mit der Tolstoi solche Figuren ins Zentrum seiner weit ausladenden Gesellschaftsentwürfe stellte, können wir unsere eigene innere Arbeit in unserer Angestellten- und Selbstverwerterkultur immer noch spiegeln.