ULRICH SCHULTE ÜBER DEN ABBAU DER KALTEN PROGRESSION
: Kleine Gaben für die Mitte

In der Tat ist die kalte Progression ein kleines Ärgernis. Das Phänomen entsteht, weil Steuertarife nicht an die Inflation angepasst werden. Steuerzahler, die eine Gehaltserhöhung bekommen, können somit in einen höheren Tarif rutschen, ohne real mehr zu verdienen. Ja, das ist unfair. Aber das Geschrei, das Union und SPD deshalb veranstalten, ist übertrieben.

Sie verkaufen die geplante Abschaffung der kalten Progression als steuerpolitische Großtat, dabei ist der Effekt für den Einzelnen klein. Ein Arbeitnehmer mit 2.500 Euro Brutto im Monat verliert bei einer dreiprozentigen Gehaltserhöhung pro Jahr 112 Euro durch die kalte Progression. Das reicht mit Glück für zwei Familienbesuche beim Italiener um die Ecke. Während der Steuernachlass für den Staat immens teuer wäre – vier Milliarden Euro jährlich –, bleibt der Vorteil für Arbeitnehmer also überschaubar. Das ist eine Grundregel, die für alle Steuersenkungen gilt. Am meisten profitieren Gutverdiener, weil sich bei ihnen Korrekturen der Tarifkurve aufsummieren. Der Plan der Koalition schustert also vor allem denjenigen mehr Geld zu, die es nicht brauchen.

Vor allem die SPD muss sich fragen, wie viel ihr so ein Projekt wert ist. Die Sozialdemokraten warben im Wahlkampf damit, die Vermögenseliten stärker zu belasten, um mehr Investitionen in Verkehr oder Schulen zu ermöglichen. Davon ist keine Rede mehr. Die SPD hat sich dem Dogma der Union untergeordnet, Steuererhöhungen für tabu zu erklären.

Sie lässt zu, dass die Koalition wegen der Mütterrente die Rentenkasse leert. Jetzt – das hat Sigmar Gabriel klargemacht – will sie zulassen, die Abschaffung der kalte Progression ohne Belastungen für Spitzenverdiener zu finanzieren. Die SPD begünstigt die Mittelschicht. Und sie schaut gleichzeitig zu, wie Niedrigverdiener unter steigenden Sozialbeiträgen leiden.

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