Schröder, ein Herbstmärchen

AUS ESSENMARTIN TEIGELER

Es ist Halloween. Im großen Essener Lichtburg-Kino soll an diesem Abend eine ganz besondere Vorstellung laufen: Er ist zurück. Der frühere Regierungschef und Dauerwahlkämpfer ist wieder auf Tour. Großes Kino, echte Gefühle, sieben Jahre Kanzlerschaft. Gerhard Schröder ist im Ruhrgebiet unterwegs auf Lese- und Promotionreise für sein Erinnerungsbuch. Vor dem alten Filmtheater in der Innenstadt steht der harte Kern der Schröder-Fans im Nieselregen. Ein junges Pärchen aus Gladbeck wartet am Eingang. „Der Mann ist einfach gut“, sagt die Frau und ihr Partner lacht. Ein Teenager probiert ein Fotohandy aus. Gleich soll er kommen, der Schröder. „Ich find‘s cool, dass er nach Essen kommt“, sagt das Mädchen.

Passanten flanieren durch die zugige Einkaufsstraße, die Weihnachtsbeleuchtung ist schon an. Sechs Polizeiautos parken neben dem Kino. Beamte in Zivil sondieren die Lage. An einem der Nebeneingänge warten Schröders alte Gegner: drei Männer von der Essener „Montagsdemo“ gegen die Agenda 2010 des damaligen Kanzlers. „Der Schröder hat Angst vor uns, darum hat er schon eine weitere Signierstunde in einer Buchhandlung abgesagt“, sagt einer der Montagsdemonstranten. Gerade als die Gerd-Gegner über den Sozialdemokraten schimpfen, fährt vor einem anderen Nebeneingang in Sichtweite eine dunkle Limousine vor. Umgeben von mehreren Personenschützern eilt der Buchautor ins Lichtburg-Gebäude. Die Montagsdemonstranten schauen aus der Ferne zu und winken ab. „Egal“, sagt einer der Männer. Er hat nur wenige Zähne im Mund.

Nicht besonders geistreich

Drinnen in der Lichtburg ist der große Saal fast voll. Mehr als 1.000 Schröder-Leser sind gekommen. Bis zu 12 Euro Eintritt haben sie bezahlt. In Parkett und Loge sitzt nicht gerade die gesellschaftliche Unterschicht des Reviers. Still hocken sie da: graumelierte Ehepaare im Rentenalter, SPD-Lokalpolitiker, aber auch viele Studenten und junge Leute mit Hornbrillen und Hemd und Sakko an. Es ist kurz nach acht Uhr abends. Mit ein paar Minuten Verspätung beginnt die Lesung. Ein Vertreter der veranstaltenden Buchhandlung betritt die Bühne. Umständlich stellt er die Hauptperson des Abends vor. In den Begrüßungsapplaus hinein greift eine Hand durch den verschlossenen roten Vorhang: Schröder ist da und setzt sich auf einen der orangefarbenen Sessel. Neben ihm sitzt Manfred Bissinger, ein Schröder-Freund, TV-Talking Head und Ex-Chefredakteur einer Wochenzeitung. Zwischen den beiden steht ein kleiner Holztisch. Schröder und Bissinger trinken Wasser. Der Journalist zittert zuweilen mit den Händen, während er spricht. „Wie soll ich Sie ansprechen, Herr Bundeskanzler“, fragt er. Die Leute lachen, als Schröder antwortet: „Zu mir können Sie auch Onkel Gerhard sagen.“

Dann beginnt der langweilige Teil des Abends. Die Lesung. Schröders Buch „Entscheidungen. Mein Leben in der Politik“ ist schon bei der Lektüre nicht besonders spannend. Die Memoiren sind weder anekdoten-, noch allzu geistreich. Vorgelesen wirken die Passagen über Schröders Kindheit in Armut, über die Entscheidung für Neuwahlen des Bundestags oder zur deutsch-russischen Geschichte noch öder. Schröder ist kein besonders guter Vorleser. Er scheint das zu ahnen. Als er sich die Lesebrille aufsetzt, sagt er zum Publikum: „Unterbrechen Sie mich einfach, wenn es zu viel wird.“ Der Exkanzler hat sich kleine gelbe Zettel ins Buch geklebt, um zu wissen, welche Stellen er vorlesen muss. Ein paar Mal verhaspelt er sich. Zwischendurch wird es im Saal etwas unruhig – da guckt Bissinger böse von der Bühne. Schröder spricht vom Irakkrieg – jemand muss laut niesen. Schröder verteidigt die zehn Euro Praxisgebühr im Gesundheitswesen – es regt sich ein leises Murren im Saal. Nach 30 Minuten ist die Lesung vorbei. Kurzer Höflichkeitsapplaus.

Jetzt sprechen Bissinger und Schröder über das Buch. Der Autor muss oft lachen, wenn der befreundete Journalist seine teils devoten, manchmal naiven und peinlichen Gefälligkeitsfragen stellt. „Warum haben Sie nicht kritischer über Oskar Lafontaine geschrieben“, fragt Bissinger. Schröder rekapituliert die eher nachdenklichen Buchpassagen über das Attentat auf den früheren Parteifreund und die persönlichen und politischen Folgen. Er hat kein besserwisserisches Abrechnungsbuch geschrieben wie einst sein Amtsvorgänger Helmut Kohl und will offenbar auch kein politischer Universalgelehrter sein wie Ex-SPD-Kanzler Helmut Schmidt, der „ja pro Jahr ein bis zwei Bücher schreibt“, wie Bissinger aufsagen kann.

Kein Elder Statesman

Das werde er wohl nicht machen, sagt Schröder und legt sein Buch beiseite. Fast scheint es so, als wolle er sich von dem Gedruckten distanzieren. Schröder hat keinen imaginären Doktorhut auf so wie viele Elder Statesmen. Er ist keine globale Instanz wie Bill Clinton, und in den USA Vorlesungen zu halten wie sein damaliger grüner Außenminister, um verpasste Bildungsabschlüsse zu kompensieren, käme Schröder wohl auch nicht in den Sinn.

„Ich bin mit mir wirklich im Reinen“, sagt er und schlägt das rechte Bein über das linke. Er inszeniert in der Lichtburg seinen eigenen Kinofilm. Schröder, ein Herbstmärchen: Aufstieg aus der deutschen Arbeiterklasse, erfolgreiches Jurastudium, Politikkarriere bis zum Bundeskanzler, das Land aus dem Irakkrieg herausgehalten, innere Reformen angefangen. In Essen präsentiert er sich wie ein Handlungsreisender in eigener Sache. Er verkauft sich und seine Lebensgeschichte. Neben Jobs in der Privatwirtschaft hat er also ein Buch geschrieben, das muss nun bis Weihnachten eben über die Ladentheken gehen. So bezirzt er sein Publikum und spielt mit ihm. „Dass Essen Kulturhauptstadt Europas 2010 wird, hat mich gewundert“, sagt er und provoziert Pfiffe. „Bis man sich mit der großartigen Kulturlandschaft im Ruhrgebiet beschäftigt hat“, schickt er lachend ein Lob hinterher.

Peinliche Revieraffinität

Manchmal kippt die Ruhrgebiets-Affinität auch ins Peinliche – etwa wenn er ein Loblied auf die örtlichen Großunternehmen RAG und STEAG singt. Das seien doch „tolle“ Sponsoren für die Fußballvereine Borussia Dortmund und Rot-Weiss Essen. Im Publikum freut sich Schröders Ex-Staatssekretär Alfred Tacke über so viel Lob. Er ist heute Vorstandschef der Essener RAG-Stromtochter STEAG.

Die aktuelle Politik streift Schröder nur am Rande. „Man muss auch gönnen können“, lacht er sarkastisch, als ihn Bissinger auf die in der Kritik stehende CDU-Kanzlerin Angela Merkel anspricht. Wer ihn denn früher von seinen Ministern aufgeregt habe? „Naja, wenn Ulla mal wieder eine neue Vorstellung von Gesundheitspolitik hatte“, scherzt er, um sich sogleich zu korrigieren. „Ulla Schmidt ist eine toughe Frau und macht einen ausgezeichneten Job.“

Die meisten Lacher erntet Schröder, als er seinen aggressiven Auftritt in der Berliner Runde am Wahlabend 2005 nacherzählt. „Das hat mir in dem Moment tiefe Befriedigung verschafft.“ Er habe dann auch Lob von seiner Frau erwartet, aber die habe den Auftritt als „suboptimal“ empfunden. Keine ganz neue Anekdote – aber die Schröder-Fans in der Lichtburg lachen und klatschen. Bissinger beendet den Abend nach 90 Minuten mit der überflüssigen Bemerkung: „Ihr Buch ist nicht suboptimal, das ist optimal.“

Schröder steht auf, lässt sich bejubeln und befreit sich von der Mikro-Verkabelung. Das sieht komisch aus, denn damit hat er sich unfreiwillig ein Hosenbein hochgezogen. So steht der Exkanzler mit entblößten Kniestrümpfen auf der Bühne. Anschließend signiert er für hunderte sein Buch. Lange Schlangen bilden sich. Draußen vor dem Kino sind die Montagsdemonstranten verschwunden. Ihr Protesttransparent hatten sie nicht mal entrollt.