LESERINNENBRIEFE
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Vom Staat geliebt gefühlt

■ betr.: „Vier Versprechen, doch zuerst ein Dank“, Anzeige der Bundeskanzlerin, taz vom 17. 11. 10

liebe taz, danke für den druck des briefes meiner kanzlerin an mich. ergreifend! zuletzt fühlte ich mich von meinem staat so geliebt, als ich die „artur-becker-medaille“ in bronze verliehen bekam. zugegeben, es brauchte ein paar jahre, aber heute bin ich wieder sicher, ich lebe in der besten aller welten! und es wird noch besser, die kanzlerin hat’s mir versprochen!

damals war das sogar anstrengender mit dem schönen leben. wir mussten unsere persönlichkeit allseits entwickeln und pläne planmäßig übererfüllen. ich lernte damals aber auch, nur kleingeister müssen dem „großen plan“ ständig ihre lebenspraxis vorwerfen. klar gab’s in der ddr mal dies und jenes nicht, klar begegnete einem hier und da mal mief, oder sogar politischer druck. große entwürfe bekommen in ihrer umsetzung manchmal schrammen, weil der mensch eben nicht vollkommen ist. diese erkenntnis hilft mir bis heute vieles zu begreifen.

wenn z. b. manche schule fault, betreuungsschlüssel real schlechter werden, statt besser, wenn ergänzende einrichtungen notleiden und am ende schließen, dann hat das rein gar nichts mit den klugen bildungskonzepten unserer regierung zu tun! oder wenn vattenfall 9 % auf den preis schlägt und mit dem verweis auf öko die brennelementesteuer bei mir kassiert, bevor sie die selber zahlen, dann ist das keinesfalls die erwartbare antwort, die unsere regierung auf ihre kluge politik des atomaren brückenschlags verdient. die frau kanzlerin bringt es ausgangs ihres briefes auf den punkt! zuversicht und gemeinsinn, statt diesem typisch deutschen kleinmut. was könnten unsere klugen führer alles schaffen, würden sie nicht ständig in sinnlose fehlerdiskussionen verstrickt!

eins macht mich jedoch stutzig. warum veröffentlicht die kanzlerin ihren brief ausgerechnet in euerm chronisch klammen blättchen? seit dem ende des systemwettstreits wird streng nur in eine richtung umverteilt, von arm zu reich! (und das will die mehrheit der menschen in der westlichen welt ja auch so, oder zweifelt jemand an deren demokratischer verfasstheit?) so eine anzeige ist doch sicher irre teuer? mich beschleicht ein schrecklicher verdacht! die anzeige ist ein satirischer fake! ihr wollt euch über die kanzlerin lustig machen? also, ich finde das unerhört! hier sind die grenzen von anstand und gutem geschmack deutlich überschritten! INGO WITZMANN, Berlin

Die Legende vom Wettbewerb

■ betr.: „Zurück zum menschlichen Maß“, taz vom 20. 11. 10

Die Legende vom Wettbewerb ist oft in der taz zu lesen, beiläufig meist (um nicht zu sagen unreflektiert), zuletzt wieder an diesem Samstag im Interview von Stephan Kosch: Der Wettbewerb habe dafür gesorgt, dass günstiges Telefonieren möglich ist.

Ist das so? Möglicherweise liegt es ja mehr daran, dass die „im Durchschnitt gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit“ zur Erbringung der diesbezüglichen Leistung extrem gesunken ist. Ein Beispiel: Wo früher ganze Häuser allein für die Vermittlung der Telefongespräche notwendig waren, reicht heute ein wenig Computertechnik mit einem Bruchteil an Platz- und Wartungsbedarf aus, um die gleiche Leistung zu erbringen. Dementsprechend gesunken ist auch der Bedarf an Personal, sprich der „im Durchschnitt gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit“.

Die privatisierte Telekom konnte nicht deshalb so viele Leute „freistellen“, weil beim staatlichen Fernmeldedienst alle faul waren, sondern weil sie wegen dieses enormen Produktivitätsfortschritts nicht mehr benötigt wurden. Übrigens: Die Privatisierung setzte in Deutschland erst ein (und war für „private“ Investoren auch erst interessant), als dieser Produktivitätsstand erreicht war.

ROLF ZAVELBERG, Köln