WENN AUF EINER SCHLESWIG-HOLSTEINISCHEN AUTOBAHN EIN WOLF SEIN LEBEN LÄSST, WIRD ÜBER GEFÄHRLICHKEIT GEREDET – ALLERDINGS NICHT ÜBER DIE DES STRASSENVERKEHRS
: Der Mensch, dem Wolf ein Wolf

Foto: Lou Probsthayn

KATRIN SEDDIG

Auf der Autobahn 24 ist ein kleiner Wolf überfahren worden. Das wäre vielleicht keine Meldung wert, wenn es ein Hase gewesen wäre oder ein Igel oder auch ein Fuchs: Hasen, Igel und Füchse liegen massenweise überfahren auf den Autobahnen. Es ist normal. Es lässt sich nicht verhindern. Und schließlich kommen auch viele Menschen auf der Autobahn um. Menschen, die auf der Autobahn umkommen, schaffen es meist auch nicht in die Nachrichten, genau wie die Igel und die Hasen.

Im Jahr 2013 gab es in Deutschland weit über zwei Millionen Unfälle und es ließen 3.290 Menschen ihr Leben. Das ist das, woran man sich gewöhnt hat. Das nimmt man in Kauf, denn der unbehinderte Straßenverkehr ist in Deutschland ein sehr hohes Gut. Dass ein Wolf überfahren wurde, ist allerdings neu, denn Wölfe konnten bisher schon deshalb nicht überfahren werden, weil es sie gar nicht mehr gab. Im Kreis Herzogtum Lauenburg und im Kreis Stormarn hat man nun ein paar Wölfe gesichtet und sich sogar gefreut.

Der Wolf ist uns etwas Besonderes, er ist ein Märchentier, ich habe als Kind oft Alpträume vom Wolf gehabt, er kam mir als die größte Gefahr überhaupt vor. Dann sah ich den Wolf im Tierpark und war erstaunt, weil er so klein war, kleiner als unser Hund, und keinen wilden Eindruck machte, mehr einen schläfrigen. Dann wurde ich älter und hatte Alpträume von einem Atomkrieg, das war in den Achtzigern. Der Atomkrieg allerdings war nicht so leicht kleinzukriegen, als Gefahr, wie der Wolf.

Nun kommt der Wolf also vorsichtig zurück, vielleicht versuchshalber, vielleicht für länger, vielleicht auch für immer. Vielleicht passt er sich langsam an: an die kleinen Wälder, an die dichte Besiedelung und an den Straßenverkehr. Vielleicht. Der Kieler Umweltminister Robert Habeck ist traurig über das tote Tier, für ihn ist der Wolf das Symbol für das wilde Schleswig-Holstein. Wenn man da bleibt, bei den Symbolen, dann wäre der überfahrene Wolf das Symbol für die zerstörte Wildnis. Nun gut, Symbole sind etwas schlicht. Als Symbol für die Wildnis taugt der Wolf auch nicht richtig, denn er bringt sie ja nicht mit zurück, er passt sich höchstens ein in die aufgeräumte Welt.

Ich bin regelmäßig in Schleswig-Holstein wandern und weiß, wie schön es dort ist, aber auch wie gepflegt die Wälder sind, wie es Papierkörbe an den Wegen gibt und kleine Bänke, buntgekleidete Rentner, die fröhlich grüßend und stöckeschwingend an einem vorbeiwalken, wie man stets nach einiger Zeit an eine Tankstelle kommt oder an eine Landstraße, wie jedes Wäldchen bald an ein Maisfeld stößt oder an einen Zaun, auf dem steht: „Privatbesitz. Betreten verboten!“

Das ist die Wildnis. Da rennt nun der Wolf rum und ist auch gar nicht mal so gern gesehen. Zum Beispiel nicht vom Landesverband für Schafzüchter. Nun ja, würden Sie es schön finden, wenn Ihr Schaf von einem Wolf gerissen würde? Ich nicht. Ich würde mich mächtig ärgern und den Wolf verfluchen. Aber wie viele Schafe reißt ein Wolf? Und warum ist ein Schaf mehr wert als ein Wolf, der sich ja ernähren muss? Und wird nicht das Schaf auch irgendwann vom Menschen gerissen, also getötet? Werden nicht fast alle Tiere vom Menschen getötet und wird das nicht toleriert?

In ganz Deutschland soll es ungefähr 100 Wölfe geben. In Schleswig Holstein hat sich jetzt mal einer verirrt, vielleicht auch zwei oder vier, und zwei sind inzwischen auch schon überfahren worden. Hoffnungsvoll finde ich das nicht. Angesichts der Gefahr, die von einer Autobahn und dem Straßenverkehr im Allgemeinen ausgeht, ist es mir vollkommen unverständlich, dass diese Tatsache gleichgültig hingenommen, ein bei uns beinahe ausgestorbenes Tier aber immer noch als Bedrohung empfunden wird. Kommt das immer noch von den Märchen? Katrin Seddig ist Schriftstellerin und lebt in Hamburg, ihr jüngstes Buch, „Eheroman“, erschien 2012. Ihr Interesse gilt dem Fremden im Eigenen