Der Sozialstaat kennt keine Bagatellen

Vor dem Bremer Amtsgericht musste sich gestern ein inhaftierter Langzeitarbeitsloser verantworten, weil er die Behörden mit einer falschen Unterschrift um fünf Euro Miete betrogen hat. Am Ende wurde das Verfahren eingestellt – wegen Geringfügigkeit

VON JAN ZIER

Ist Jörg W. ein „Parasit“? Jedenfalls ist die Anklage der Bremer Staatsanwaltschaft gegen ihn wohl nur ein Symptom. Eines unter vielen. In seinem Werk „Vorrang für die Anständigen – Gegen Missbrauch, „Abzocke“ und Selbstbedienung im Sozialstaat“ kam das Bundesarbeitsministerium schon im vergangenen Jahr zu dem Ergebnis: „Biologen verwenden für Organismen, die auf Kosten anderer leben, die Bezeichnung Parasiten.“ Der verantwortliche Minister hieß damals noch Wolfgang Clement. Ein Sozialdemokrat.

Jörg W. lebt schon länger auf Kosten des Staates – denn er hat „nichts gelernt“, wie der 43-Jährige Angeklagte freimütig zugibt. Einen Beruf kann er nicht vorweisen, eine Ausbildung auch nicht. Und im Moment sitzt der Mann ohnehin im Knast, eine Bewährungsstrafe von sechs Monaten. Jörg W. hat gegen die Auflagen verstoßen. Wie, das kann er selbst nicht genau sagen. Doch darum ging es auch nicht in diesem Prozess, gestern, vor dem Bremer Amtsgericht. Und doch gereichte ihm wohl eben diese Strafe zum Nachteil, sagt sein Verteidiger Udo Würtz.

Denn jetzt hat Jörg W. auch noch die Bremer Agentur für Integration und Soziales (Bagis) betrogen. Um fünf Euro. Die Bagis zahlt dem ALG II-Empfänger W. die monatliche Miete: 345 Euro, laut Mietvertrag, zuzüglich 50 Euro Nebenkosten. Doch die Mietbescheinigung, die W. am 25. Februar 2005 beim Amt einreichte, weist 350 Euro aus.

JuristInnen nennen das einen „rechtswidrigen Vermögensvorteil“, zumal die Mietbescheinigung nur angeblich vom dem Vermieter unterschrieben war. Tatsächlich leistete W. diese Unterschrift selbst – ein klarer Fall von Betrug. So steht es auch in der Anklageschrift.

Doch auch Staatsanwalt Christian Tietze ist die Anschuldigung, die er da verliest, etwas peinlich. Eine „junge, aufstrebende Staatsanwältin“ hat sie für ihn formuliert, wird er nachher zu seiner Verteidigung vortragen, Tietze hat sie nur vertreten. „So eine Anklage ist schnell geschrieben“, sagt Würtz. Mindestens zwei neue Fälle kommen Tag für Tag auf den Schreibtisch der 45 Bremer StaatsanwältInnen. 824 neue Fälle sind allein im vergangenen Jahr aufgelaufen, sagt Dietrich Klein, der Leitende Oberstaatsanwalt in Bremen. Das seien zwar mehr als in Niedersachsen, aber weniger als etwa in Bayern, Baden-Württemberg oder dem Saarland. Bremen sei bei der Belastung seiner Staatsanwälte zwar „im vorderen Bereich“ – aber keineswegs an der Spitze. „Dennoch liegen wir sehr, sehr gut“, sagt Klein. Gerade einmal zwei Monate liege ein Fall derzeit bei der Staatsanwaltschaft Bremen – im Durchschnitt jedenfalls. Bei Jörg W. dauerte es eineinhalb Jahre, ehe es zur Verhandlung kam.

Am Ende ist der Prozess binnen zehn Minuten beendet. Das Verfahren wird eingestellt, wegen Geringfügigkeit. Schließlich ist gar kein Schaden entstanden, auch nicht bei der Bagis. Einer Sachbearbeiterin ist der Betrug aufgefallen, und als solchen hat sie ihn auch gleich gemeldet. So will es die Bagis, denn Bagatelldelikte – „gibt es hier nicht“, sagt Bagis-Sprecherin Angela Wessel. Es geht ums Prinzip. Nicht um fünf Euro, betont sie.

Allerdings, sagt Würtz, sei es auch seinem Mandanten gar nicht um diese fünf Euro gegangen. Das sei eher ein Versehen gewesen, „im Eifer des Gefechts“. Immer wieder habe es Probleme mit dem Vermieter gegeben, das Verhältnis war angespannt – da hat sich W. einfach selbst beholfen. „Das macht doch nichts, das merkt doch keiner“, heißt es dazu in der Clement-Broschüre, „so beginnt in ungezählten Fällen die Betrügerei am Sozialstaat.“

Und es hätte auch keiner gemerkt, hätte W. nicht die falsche Summe eingetragen. Doch darauf, schreibt schon das Ministerium, reagiere die Verwaltung „besonders empfindlich“. Und schon kommt der ganze Staatsapparat in Gang, werden zwei StaatsanwältInnen bemüht und ein Amtsrichter, auch der Angeklagte selbst muss für seinen Prozess in Bremen erst aus dem Bremerhavener Gefängnis vorgeführt werden.

„Das lohnt die ganze Sache nicht“, sagt auch Amtsrichter Claas Schmedes. Zumal Fälle wie der von Herrn W. „nur hin und wieder mal vorkommen“, wie Wessel sagt. Dennoch hat die Bagis ihre Kontrollen verstärkt, „im Interesse“ der ehrlichen ALG-II-EmpfängerInnen, wie sie sagt. Und um einem „Generalverdacht“ entgegenzuwirken. Zum Beispiel jenem, der nahelegt, dass Jörg W. ein „Parasit“ ist.