ANTIKAPITALISTEN
: Sozialstaat schottern

„Wo bleibt das Emanzipatorische?“

Der Titel des Abends klang vielversprechend: „Sozialstaat schottern“. Es wird ja derzeit so einiges geschottert. Der Castor, die Regierung und jetzt also auch der gesamte Sozialstaat am Montagabend im Festsaal Kreuzberg. Gut 100 Linke – einige radikal, manche alternativ, andere irgendwo dazwischen – ließen sich locken. Ich begleitete meinen neuen Freund.

Christian Frings, Typ: Marxist in den späten Vierzigern, war geladen, seine Kritik am Sozialstaat zu referieren. Nach einer Stunde war er noch immer tief im 19. Jahrhundert, der Sozialstaat war noch immer nicht voll entwickelt und ich wollte rauchen. „Komm zum Punkt“, schrie ich, leider nur in meinem Kopf. „Wo bleibt das Emanzipatorische“, schrie eine Frau in Rot ganz verwirrt. „Wo bleibt die Praxis“, fragte ich mich.

Ich wähnte mich in einer Endlosschleife, war aber gewillt zu folgen. Doch die Streicheleinheiten, der Nacken, die Schultern meines Sitznachbarn lenkten mich ab. Beim Stichwort Lohnfetischismus hatte mich Frings dann wieder. Bis nicht nur meine Aufmerksamkeit auf die tapsenden Schritte des braun-weißen Hunds gelenkt wurde. Gern hätte ich auch ihn gestreichelt, aber er war dort unten und wir waren hier oben auf der Galerie.

Nach zwei Stunden – für das 20. Jahrhundert brauchte Frings nur zehn Minuten – dann die These: Man darf nicht den Ausbau des Sozialstaats fordern, denn der ist Stütze des Kapitalismus. Stattdessen muss man das System in Frage stellen, radikal werden, Häuser besetzen. Okay.

Bemerkenswert war das Publikum, das den Vortrag – trockener als das langweiligste Soziologie-Seminar – über sich ergehen ließ. Einzig die verwirrte Frau in Rot echauffierte sich später über die einseitige Vortragsstruktur.

Vielleicht muss ich das nächste Mal alleine gehen. Ohne Ablenkung von rechts. Vielleicht müssen aber auch die Antikapitalisten umdenken. PAUL WRUSCH