HMTD oder Apfelsaft?

Ab Montag treten die neuen EU-Sicherheitsbestimmungen für das „on board“ erlaubte Handgepäck in Kraft – Trinkflaschen sind verboten, weil es sich um flüssigen Sprengstoff handeln könnte. Fies!

von ARNO FRANK

Wer nicht fragt, bleibt dumm. Die Frage, die sich eine Gruppe unlängst in London verhafteter Terroristen gestellt haben mag, dürfte ungefähr so gelautet haben: Wie holen wir eine vollbesetzte Boeing 747 vom Himmel, wenn sie auf ihrem Weg von London nach Los Angeles gerade in regulärer Reiseflughöhe von 10 Kilometern und mit 900 Stundenkilometern über die Südspitze von Grönland düst?

Wegen der nach 9/11 verschärften Sicherheitskontrollen auf den Flughäfen bedürfte es dafür eigentlich einer leistungsfähigen Boden-Luft-Rakete vom Typ „Stinger“, und die gibt’s nicht als Bausatz im Spielwarenladen oder Supermarkt.

Im Supermarkt aber gibt es fast all die harmlosen Substanzen, die man für einen Sprengsatz auf Basis von Hexamethylentriperoxiddiamin (HMTD) so braucht: Wasserstoffperoxid beispielsweise ist in jedem Haarfärbemittel im Überfluss vorhanden und muss für Bombenzwecke zuvor sogar mit destilliertem Wasser verdünnt werden; dazu Zitronensäure in kristalliner Form, wie sie in allen handelsüblichen Entkalkern aus dem Baumarkt enthalten ist; und schließlich Hexamethylentetramin oder Hexamin, besser bekannt als Trockenspiritus.

Des Weiteren braucht man nun nur noch einen Teelöffel, einen Kaffeefilter, ein Eisfach im Kühlschrank, ein wenig Geduld – und schon hat man eine harmlos anmutende Flüssigkeit zur Hand, die naturtrübem Apfelsaft gleicht und – ganz anders als naturtrüber Apfelsaft – mit dem Blitz einer Digitalkamera zur Explosion gebracht werden kann.

Mit einer durchschnittlichen Detonationsgeschwindigkeit von 4.500 Metern pro Sekunde reicht unser HMTD-Sprengsätzchen locker aus, eine Boeing 747 strukturell so sehr zu beschädigen, dass ihr unweigerlicher Absturz das Topthema der Abendnachrichten sein wird – vor allem wenn, wie in dem im August aufgedeckten Attentatsplan von London vorgesehen, gleich mehrere Flugzeuge auf diese Weise vom Himmel geholt werden.

Eine Chemiestunde mit Folgen, wie viele Fluggäste am kommenden Montag feststellen werden, wenn die verschärften Sicherheitsregeln für Handgepäck in Kraft treten. Um Anschläge mit naturtrübem Apfelsaft zu verhindern, dürfen in allen 25 Staaten der Europäischen Union (sowie Schweiz, Norwegen und Island) nur noch begrenzte Mengen von Flüssigkeiten in die Kabine mitgenommen werden. Zwecks Anpassung an die neuen EU-Regeln hat Großbritannien unterdessen seine eigenen Sicherheitsauflagen gelockert.

Erlaubt ist nur noch, was in eine durchsichtigen Plastiktüte mit einem Volumen von einem Liter hineinpasst. Vier Millionen solcher Plastiktüten hat allein der Frankfurter Flughafen bereits geordert, um sie an seine täglich bis zu 80.000 Flugpassagiere verteilen zu können.

Dusch- oder Haargel, Rasierschaum, Sprays oder Sonnencreme – das alles muss künftig in diese kleine Tüte hinein, damit es vom Sicherheitspersonal ähnlich durchleuchtet werden kann wie Mantel oder Laptop.

Die einzelnen Flüssigkeiten – in der Regel kleine Pflege- und Kosmetikartikel wie Zahnpasta, Kontaktlinsenflüssigkeit, Gleitcreme und Parfüm – müssen auf 100 Milliliter beschränkt sein, größere Trinkflaschen sind ganz verboten.

Um Umsatzeinbußen bei den Duty-free-Geschäften zu vermeiden, sind die erst hinter der Sicherheitskontrolle gekauften und oft versiegelten Getränke von den neuen Regelungen ausgenommen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der flüssigkeitsvertreibende Einzelhandel von Douglas bis Schlecker seine Produkte in genormtem „Handgepäck“-Format anbieten wird.

Seit ein sogenannter Schuhbomber mit einem in der Sohle versteckten Sprengsatz groben Unfug anrichten wollte, müssen auf Flügen in die USA die Schuhe ausgezogen werden; und Flüssigsprengstoff führt nun zum Verbot von Flüssigkeiten. Wenn es künftig in dieser Logik weitergehen soll, muss folgende Frage erlaubt sein: Wann konstruieren findige Terroristen endlich eine Bombe, deren wesentlicher Bestandteil der Mangel an Beinfreiheit in der Holzklasse ist?