Querelen um blutige Nase für Goethes „Faust“ in Dortmund

Kann ein Plakat ein Tiefpunkt deutscher Theaterkultur sein? In Dortmund wird das gerade diskutiert. Die aktuelle Werbetafel für Thirza Brunckens „Faust 1“-Inszenierung am Stadttheater ziert eine arg blutige Nase. Das Foto ist aus der weltweit erscheinenden Zeitschrift „Vice“ (deutsch: das Laster) entnommen, die in Bars und Modegeschäften kostenlos ausliegt. Es zeigt die authentische Aufnahme eines verletzten, anonymen Mannes in einer Großstadt. Faust, das Johann Wolfgang von Goethe-Standardwerk der gymnasialen Oberstufenschüler, hatte am Wochenende Premiere. Doch zurück zum provokanten Plakat. Schauspiel-Direktor Michael Gruner hat sich bei Menschen entschuldigt, die sich verletzt fühlen, warb gleichzeitig für künstlerische Freiheit. Geschmacklosigkeit, Brutalität, Ende der Kultur. Das mediale Szenario solcher Fälle spult sich professionell ab, Befragung auf der Straße, Leserbriefe prasseln, es endet meist immer im Boulevard „Wagner, übernehmen Sie“. Neu ist die Auseinandersetzung zwischen gesundem Volksempfinden und Kultur an sich nicht. In Düsseldorf wurde das Fotoshooting mit hunderten Nackten vom US-amerikanischen Fotostar Spencer Tunick arg diskutiert. Oder man denke nur an die noch schwebende Kopftuchdebatte, die meist populistisch ausgetragen wird und fremde kulturelle Befindlichkeit gern ausklammert. Die Übergriffe der so genannten „öffentlichen Meinung“ auf die Kunstfreiheit nehmen scheinbar zu. Volkes Stimme hat es sogar geschafft, dass Künstler ihre Werke wieder abbauten. In diesem Jahr passierte das Santiago Sierra mit seiner Gas-Installation in der Synagoge Pulheim. Für das Dortmunder Theaterplakat sollte sich niemand entschuldigen, die Freiheit der Kunst kennt keine Schranken. Wem das nicht gefällt, der soll wegschauen – oder besser noch, mal öfter ins Museum oder Theater gehen. PETER ORTMANN