Alle Schüler unter einem Dach?

In der Opposition trauen sich die nordrhein-westfälischen Sozialdemokraten wieder was: Sie fordern jetzt ein gemeinsames Lernen aller Schüler und Schülerinnen bis zur sechsten Klasse – mit der Option auf Verlängerung. Ist das eine sinnvolle Antwort auf schlechte PISA-Ergebnisse?

JA

Aktuell hat die Politik – diesmal die SPD – das alte reformpädagogische Thema „länger gemeinsam lernen“ wieder entdeckt und rückt damit die Dreigliedrigkeit unseres Schulsystems ins Zentrum der Diskussion. Politische Aufmerksamkeit für die Unzulänglichkeiten unseres Schulsystems ist grundsätzlich zu begrüßen. Ist doch seit PISA mehr als bekannt, dass das deutsche Schulsystem im internationalen Vergleich gegenwärtig keineswegs konkurrenzfähig oder gar zukunftsweisend ist.

Die frühe Auslese in unserem dreigliedrigen Schulsystem lässt die erste vier Jahre für zu viele Kinder, Eltern und LehrerInnen zu einer Dauerprüfung und zu einem Angstgegner werden. Bildungsinteressierte bewegt die Frage nach der richtigen weiterführenden Schule bereits in der Kindergartenzeit. Eine so weit reichende Planung kann der Lern- und Persönlichkeitsentwicklung des Kindes im Wege stehen. Die Bildungsfernen und vielleicht schon selbst Gescheiterten meiden dagegen solche Ambitionen. Sie können ihre Kinder oft weder dazu motivieren noch dabei unterstützen, einen höheren Bildungsabschluss zu erlangen.

Dies alles muss von engagierten LehrerInnen und Eltern aufgefangen werden, auch wenn sie sich damit nicht selten überfordert fühlen. Wir Schulpsychologen unterstützen Schule und Eltern bei dieser Arbeit. Wir stellen häufig fest, dass Lern- oder Verhaltensprobleme durch Orientierung auf den alles entscheidenden Schulwechsel verursacht oder mitverursacht sind. Zeit und Energie werden dafür verbraucht, den Systemfehler der frühen Sortierung einigermaßen erträglich zu machen.

Längeres gemeinsames Lernen – auch bereits bis zur sechsten Klasse – könnte den Druck aus dem Kessel der vierjährigen Grundschule nehmen. Es ließe mehr Platz für individuelle Entwicklungsgeschwindigkeiten, für die Herausbildung von Stärken und für die Festigung der Persönlichkeit. Die dann etwa 12-jährigen Kinder hätten die Möglichkeit, Lerndefizite durch konsequente individuelle Förderung zu bearbeiten. Auch besonders begabte Kinder würden dann in der weiterführenden Schule nicht mehr auf LehrerInnen treffen, die auf die Beziehungsbedürfnisse dieser oft sehr jungen Kinder nicht vorbereitet sind.

Gemeinsames Lernen auch nach der sechsten Klasse wäre eine Antwort darauf, dass die Entwicklung eines Kindes nicht linear verläuft. Manche Kinder können sich zum Beispiel nach der Pubertät intensiver und nachhaltiger auf die Schule einlassen. Aus schulpsychologischer Sicht entspräche ein längeres gemeinsames Lernen somit einem Bildungsbegriff, der die gesamte Person der SchülerInnen berücksichtigt. Sie können sich entwickeln, aus ihren Krisen lernen, ihrem eigenen Lerntempo folgen, ohne dass systeminterne Grenzen dies erschweren. Ich begrüßt deshalb jede Initiative, die eine frühe Festlegung verhindert.

HILDEGARD LIERMANN

NEIN

Immer wenn es um das schlechte Abschneiden der deutschen Schüler in Bildungsstudien geht, wird unser gesamtes Schulsystem in Frage gestellt. Zu Unrecht: Die Dreigliedrigkeit des Schulsystems ist nicht das Problem, sondern die Qualität der Bildung. Das dreigliedrige Schulsystem ist dann erfolgreich, wenn es richtig praktiziert wird.

Die von der SPD vorgeschlagene Einführung der so genannten Orientierungsstufe der 5. und 6. Klasse hat zur Folge, dass die Kinder zwei Jahre in ihrem Lernprozess keine Entscheidung finden können, in welchen Bildungsgang sie nun in der 7. Klasse wechseln möchten. Eine Verlängerung der Grundschulzeit wäre nicht nötig, wenn die Grundschule ihren Auftrag, die Kinder an die richtige Schule heranzuführen, ernst nehmen würde. Ein erster Schritt in die richtige Richtung ist die im neuen Schulgesetz verankerte Verlagerung der Entscheidungsmacht auf die Lehrer. Der Elternwille, der bisher beim Wechsel in eine andere Schulform ausschlaggebend war, führte oft nicht zur richtigen Entscheidung. Dies belegen Zahlen über Rückläufer an verschiedene Schulformen, wovon besonders die Hauptschule betroffen ist.

Auch die 16 verschiedenen Schulgesetze in 16 Bundesländern verhindern eine Sicherstellung der Bildungsqualität. Mit einem einheitlichen Bildungssystem hätten es unsere Kinder in den Kindergärten und in unserem dreigliedrigen Schulsystem wesentlich einfacher. Dazu kommen die ständigen Reformen innerhalb der Bundesländer, die es den Lehrerinnen und Lehrern erschweren, eine Kontinuität in den Schulalltag zu bringen. In NRW wurde das neue Schulgesetz von Rot-Grün nach nur anderthalb Jahren von der schwarz-gelben Landesregierung wieder gekippt. Die Zeit der Schulexperimente auf dem Rücken unserer Kinder muss endlich beendet werden.

GÜNTHER JOHNEN