Zeugnis ablegen

Bei der Rieseberg-Konferenz treffen sich alte Gewerkschaftler zum Gespräch über Wiederaufbau und Vergangenheitsbewältigung nach 1945. Dabei will man die Zeitzeugen hören – und sich der eigenen Geschichte vergewissern

1945 – 1949: Das ist die Zeit, in der die Gewerkschaftler zu den wenigen Deutschen gehörten, die sich bewährten

VON FRIEDERIKE GRÄFF

„Haltet euch den Sensenmann vom Leib“, sagt der Moderator in seinem Schlusswort. Der Moderator ist 84 Jahre alt und die meisten seiner Zuhörer und Zuhörerinnen sind wenig jünger. Es sind knapp 40, die zur Rieseberg-Konferenz gekommen sind, die die Gruppe „Arbeit und Leben Niedersachsen“ der DGB Region SüdOstNiedersachsen organisiert hat.

„Wenn Sie so wollen, ist das eine Veranstaltung für die älteren Semester“, sagt Gundolf Algermissen, der DGB-Regionsvorsitzende. „Aber wir haben jedes Jahr auch ein Rieseberg-Forum mit zwei Schulen“. Bei der Rieseberg-Konferenz entschuldigen sich dagegen die Redner, die zu jung sind, um Zeitzeugen zu sein. Diejenigen, die nicht dabei waren, als es nach 1945 um die Entnazifizierung und den Wiederaufbau in Braunschweig ging. Diejenigen, die nicht dabei waren, als sich die Arbeiter in Salzgitter gegen die Demontage ihrer Werke durch die englischen Alliierten wehrten.

„Die Zeitzeugen sterben langsam weg“, sagt Algermissen. „Aber ihr Wissen ist zu wichtig, als dass sie es einfach mit ins Grab nehmen sollten.“ Aber wenn man danach den Moderator sagen hört, dass er den Redner nicht vorstellen müsse, „weil ihn sowieso alle kennen“, fragt man sich, ob es wirklich vor allem darum geht, etwas Neues zu hören. Oder ob es nicht um eine Selbstvergewisserung geht. Um die Gewissheit, dass es eine Zeit gab, in der der Sozialistische Bund oder die Gewerkschaft Einrichtungen waren, die das öffentliche und das private Leben geprägt haben. Vielleicht ist diese Vergewisserung ein Bedürfnis, das notwendigerweise am Ende des Lebens steht. Vielleicht wird es dringlicher, wenn eben diese Verbände und Milieus in der Gegenwart nicht mehr die Bedeutung haben, die sie früher einmal hatten.

Eine alte Dame aus Ostpreußen erzählt also, wie sie in Braunschweig zur Lehrerin ausgebildet wurde. Sie erzählt, wie sie nebenbei auf dem Kohlenmarkt Luftballons verkauft hat und der Moderator, Günter Wiemann, ein emeritierter Erziehungswissenschaftler, sagt, dass er damals morgens um 4 Uhr bei den Bauern Gift gegen die Spatzen auslegte und eine Stunde später die toten Vögel aufkehrte, damit die Hühner sie nicht fraßen. Wiemann sagt, dass er den Ehemann der Lehrerin aus dem sozialistischen Studentenbund kenne und sie 1942 im 1. ostpreußischen Infanterieregiment beschlossen hätten, sich in 50 Jahren wieder vor der Kaserne zu treffen. „Von 50 Soldaten waren 16 da“, sagt er. Als die russischen Soldaten die alten deutschen Männer gesehen hätten, seien sie aus der Kaserne gekommen und hätten ihnen erzählt, dass es jetzt ein Traditionszimmer in der Kaserne gebe. „Das sind Signale für eine neue Zeit“, sagt Wiemann.

Aber immer wieder kehrt das Gespräch zurück zu den Verstrickungen unter den Nationalsozialisten. Das mag daran liegen, dass in Rieseberg 1933 elf Männer, die meisten KPD- oder Gewerkschaftsmitglieder, von SS-Männern gefoltert und ermordet wurden. Auf dem Gelände des heutigen Künstlerhauses Pappelhof, wo die Männer erschossen wurden, steht heute ein Denkmal, an dem jährlich eine kleine Gedenkfeier stattfindet. Und auch diesmal gehen die alten Gewerkschaftler hinaus und während Gundolf Algermissen eine kurze Rede hält, nehmen die Männer ihre Mützen ab.

Aber warum kehrt man auf einer Tagung, die laut Programm die Zeit von 1945 bis 1949 behandeln soll, immer wieder auf die Zeit vor 1945 zurück? Vielleicht, weil es die Zeit ist, in der die Gewerkschaftler zu den wenigen Deutschen gehörten, die sich bewährten. Vielleicht, weil es eine Zeit ist, von der man inzwischen das Gefühl hat, sie in Geschichten fassen zu können. Denn wer kann heute schon eine Geschichte über die Zersplitterung der Gesellschaft, den Bedeutungsverlust der Volksparteien und Gewerkschaften erzählen?

Eine Geschichte, die auf der Konferenz erzählt wird, ist die eines davongekommenen Täters, Berthold Heilig, dem Braunschweiger Repräsentanten der Nationalsozialisten, dem 1948 die Flucht aus dem Gefängnis und schließlich nach Argentinien gelang. Der Journalist Eckhard Schimpf, der sie erzählt, traf für seine Recherchen die Töchter Heiligs, die ihm von den Nachmittagen bei der befreundeten Eichmann-Familie berichteten, mit der man sich zum Marmelade-Einkochen traf. „Die Tochter hat erzählt, dass es immer nett war“, sagt Schimpf. „Es waren immer diese ganz banalen Sätze“.

Die Diskussion am Ende beginnt ein bisschen zäh. Der Direktor des Braunschweiger Landesmuseums möchte bald eine Ausstellung zum Kampf gegen die Demontage veranstalten, weil „wir nicht mehr Jahrzehnte Zeitzeugen haben“. Die Zeitzeugen sagen, dass von Jahrzehnten eigentlich nicht die Rede sein könne. Aber aufmerksam werden die Leute so recht eigentlich, als ein Jurist aufsteht und die Frage stellt, was eigentlich aus dem jüdischen Eigentum geworden sei, dass die örtlichen Finanzämter zwangsversteigert hätten. „Hat nach 1945 irgendjemand das Sofa oder den Wintermantel, an den er so gekommen ist, versucht zurückzugeben?“, fragt er. Man antwortet ihm, dass es wohl keine solchen Initiativen gegeben habe. Und dass es schwierig sei, jetzt eine Diskussion zu führen, die damals hätte stattfinden müssen.

Aber man erinnert sich an das Fortwirken der Nationalsozialisten. An einen Helmstädter Schulrat, der einer jungen Lehrerin verbot, das Foto der vietnamesischen Frau zu kopieren, der ein Gewehr an die Schläfe gehalten wird. „Nicht auf meinem Kopierer“, sagte der Mann, der, wie sich herausstellte, NS-Führungsoffizier gewesen war.

„Warum haben eigentlich diejenigen, die sich so heftig gegen die Demontage wehrten, sich vorher nicht für die Juden eingesetzt?“, fragt einer. Der alte Mann, der über den Kampf dagegen berichtet hat, wiegt schweigend den Kopf.