berliner szenen Deutsches dichten

Leben in Zitaten

Die Zeit rinnt an der Scheibe entlang. Ich sitze mit B. und H. am Tisch im Eckstein. Wir spielen Stadt, Land, Zitate. „Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind“ – B. schaut triumphierend. H. kontert: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“. Die Langhaarige vom Nachbartisch winkt, H. legt nach: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht“.

Es ist aber erst Nachmittag. Ich schaue aus dem Fenster und widme mich einer Betrachtung des Verkehrs: „Männliche Autofahrer rächen sich für einen zu kurz gekommenen Sommer und versuchen mit Pfützenbrackwasser Passantinnen den Tag zu versauen. Das gelingt nicht immer.“ „Das gilt nicht“, R., unser Regelspezialist, taucht ungefragt aus dem Nichts auf, „das ist nicht gedruckt“. – „Morgen vielleicht schon“, rufe ich, denn ich will auch mal einen Punkt. „Er floh vor ihr, indem er sie rief … R. wie Rilke, Das Testament, S. 18, Suhrkamp, Hardcover.“ R. will immer nur gewinnen.

H., davon unbeeindruckt, unterschlägt ein e und ruft artig in die Runde: „Ob hier oder dort, ich bin mir überall im Weg“. Das hätte auch von mir sein können. Die Tresenkraft scheppert die Heißgetränke auf die Tischplatte. Schwapp, meine Broschüre vom Arbeitsamt liegt im Kaffeesatz. Die Frau vom Amt hat einen Büstenhalter mit schwarz-rot-goldenen Trägern und ein gleichfarbiges Schlüsselband. Aber wen interessiert das? Hat wohl auch nichts zu bedeuten, diese Tümelei, oder? Überhaupt geht es mir ja noch gut. Die Bedienung wünscht was Aktuelles, was Peppiges. H. bleibt beim alten „Ein schönes Lied, ein besseres Lied“. Und B. bringt dann auch noch einen Klassiker: „Dichter und Denker holt in Deutschland … – das Jobcenter“. Das, fällt mir ein, das ist gedruckt. SYNKE KÖHLER