Fließender Fußball

Wow, was für ein Flow: Der VfB Stuttgart gewinnt ohne Probleme bei Alemannia Aachen, weil er sich der Rationalisierung des Spiels verweigert

AUS AACHEN DANIEL THEWELEIT

In der Psychologie gibt es den schönen Begriff des „Flow“. Das ist Englisch und heißt „Fließen“, doch hinter diesem Wort verbirgt sich so etwas wie eine Formel zum Lebensglück. Der amerikanische Wissenschaftler Mihaly Csikszentmihalyi, der den Begriff prägte, nennt folgende Merkmale für den begehrenswerten Zustand: „Wir sind unserer Aktivität gewachsen, wir haben das Gefühl der Kontrolle über unsere Aktivität, die Tätigkeit hat ihre Zielsetzung bei sich selbst, und unsere Sorgen um uns selbst verschwinden.“ Das ist eine ziemlich gute Beschreibung für das, was der VfB Stuttgart derzeit in Deutschlands Fußballstadien zur Aufführung bringt. Mit 4:2 gewannen die Stuttgarter am Samstag in Aachen, und sie zeigten dabei weder den durchrationalisierten Fußball eines abgebrühten Topteams noch ein überdrehtes Feuerwerk, dessen Einmaligkeit absehbar ist. Sie haben ihr Spiel mit großer Freude für den Moment gespielt.

Stuttgarts Trainer Armin Veh blieb aber demonstrativ nüchtern. „Ich bin überrascht über die große Spielfreude über einen so lange Zeitraum“, sagte er. Und Teammanager Horst Heldt ergänzte: „Das Team funktioniert, das ist eine Einheit.“ Der VfB Stuttgart hat nach zehn Spieltagen die Champions-League-Plätze erreicht, doch wie das gekommen ist, bleibt im Grunde rätselhaft. Es scheint den Schwaben einfach zu passieren. Hört man den Stuttgartern genau zu, deutet einiges darauf hin, dass es sich um ein zwischenmenschliches Phänomen handelt.

In Aachen standen sieben Spieler in der Anfangsformation, die im vergangenen Jahr noch nicht für den VfB spielten. „Es macht einfach unglaublich Spaß, Teil dieser Mannschaft zu sein“, sagte Doppeltorschütze Marco Streller. Heldt bestätigte das. „Die Neuzugänge, die können klappen, das kann aber auch schiefgehen“, sagte er. „Wir haben uns bei den Verpflichtungen recht viel Mühe gegeben, auch damit, die Leute einzubinden.“ Der Ivorer Arthur Boka hat sich ebenso konstruktiv eingefügt wie der junge Roberto Hilbert, der ehemalige Mainzer Antonio da Silva oder die beiden Mexikaner Ricardo Osorio und Pavel Pardo. Vor allem Pardo spielt praktisch ohne Deutschkenntnisse eine zentrale Rolle im Team. Vor drei Jahren, als der VfB schon einmal das Prädikat „Die jungen Wilden“ erwarb, führte Svonimir Soldo im defensiven Mittelfeld Regie, das macht nun Pardo. „Die beiden Mexikaner haben sich nahtlos eingefügt“, sagte Veh. „Das hat mit der fußballerischen Klasse zu tun, aber auch damit, dass sie wirklich gute Typen sind. Sie tragen auch ohne die Sprache dazu bei, dass da Witz reinkommt.“

Und weil Pardo noch nicht angesteckt ist vom Rationalisierungsbestreben des deutschen Fußballs, verzichtet er darauf, in bestimmten Phasen den Rhythmus zu verlangsamen, das Spiel wird dadurch attraktiver. „Große Mannschaften machen das, aber wir können das noch nicht“, befand Veh und sah dabei nicht so aus, als würde er sich diese Fähigkeit herbeiwünschen – schließlich macht die intuitive Spielfreude seine Mannschaft derzeit so aufregend.

Jetzt, im Herbst, zeigt sich also, dass Heldt, Veh und Sportmanager Jochen Schneider ein ungewöhnlich glückliches Händchen bei den Transfers hatten. Plötzlich haben sie eine klimatische Konstellation, in der große Spieler heranwachsen könnten. Mario Gomez entwickelt sich großartig, er hat nun schon sechs Tore erzielt und vier vorbereitet, Thomas Hitzlsperger mausert sich zu einem veritablen Mittelfeldstrategen, keine Mannschaft hat im bisherigen Saisonverlauf öfter aufs Tor geschossen, und nach den Überfliegern aus Bremen verfügt der VfB über den erfolgreichsten Angriff der Liga.

Veh jedoch zuckte angesichts dieser Daten nur mit den Schultern. „Ich bin keiner, der da in Rieseneuphorie ausbricht, genauso wie ich ruhig bleibe, wenn es mal nicht so läuft“, sagte er. Logisch, dass er trotz Drängens der Reporter auf eine Benennung neuer Ziele verzichtete. Man müsse „bescheiden bleiben“, verkündete Veh, und „unser Ziel ist, dass wir leidenschaftlichen Fußball spielen“. Womit man wieder bei Csikszentmihalyi und seinem Flow wäre. Die große Frage bleibt nur, wie nachhaltig dieses bemerkenswerte Konstrukt ist.