Wahn und Wandel

Der Mythos vom Jugendstil: In der Fußball-Bundesliga wird regelmäßig das Hohelied auf den Jungprofi angestimmt, doch sobald genügend Geld in der Klubkasse ist, verstummt es schon wieder

VON STEFAN OSTERHAUS

Inzwischen können sie sich der Komplimente kaum noch erwehren. Am Samstag, nach dem 2:1 gegen Nürnberg, war es mal wieder so weit. „Die Jungspieler haben mir gut gefallen“, sagte Nürnbergs Trainer Hans Meyer nach der Niederlage gegen Hertha BSC, der ersten in dieser Saison für den Klub. Die Ansicht hat Meyer nicht exklusiv, denn es gibt wohl kaum jemanden, dem dieser Haufen nicht einen Hauch von Respekt abnötigt. Sie heißen Kevin Boateng, Ashkan Dejagah, Sofian Chahed, Malik Fathi. Der jüngste von ihnen, Boateng, ist 19 Jahre alt, der älteste, Chahed, 23. Und auf dem Feld scheinen sie die alte Losung der 68er bekräftigen zu wollen: „Traue keinem über dreißig!“ Schreitet in Berlin die Revolution voran? Auch im DFB ist man begeistert vom Berliner Modell der Nachwuchsförderung, das fünf Trainern eine Vollzeitbeschäftigung verschafft. Sie halfen dabei, dass insgesamt 34 Berliner zu den Jugendteams des DFB geschickt wurden. Die Hertha gibt sich betont jugendbewegt.

Skepsis ist angesichts der Hymnen allerdings geboten, weil einem diese Mechanismen bei näherer Betrachtung reichlich bekannt vorkommen. Denn wie fast immer ist die schlagartig einsetzende Verjüngungskur nicht unbedingt das alleinige Resultat planvoller Ausbildungsarbeit. Zumeist ist das Zurückgreifen auf den eigenen Nachwuchs eine bloße Notwendigkeit – und somit der Ausdruck von Misswirtschaft in den Jahren zuvor. Denn die Hertha ist hoch verschuldet. Und was kommt da gelegener als ein hoch veranlagter Jahrgang, der sich prächtig und kostengünstig in den Profikader integrieren lässt?

Vor ein paar Jahren war es der VfB Stuttgart, der mit Kevin Kuranyi, Aliaksandr Hleb, Timo Hildebrandt und dem von München ausgeliehenen Philipp Lahm bis in die Champions League stürmte und dort gar nicht schlecht aussah. Felix Magath erwarb sich den Ruf eines vorbildlichen Nachwuchspflegers und übergab Matthias Sammer einen Kader. Als später Giovanni Trapattoni als Trainer verpflichtet wurde, erklärte Klubchef Erwin Staudt: „Unsere Jungen haben den besten Lehrer verdient.“ Doch die Kassenlage des einstmals klammen VfB hatte sich in der Zwischenzeit rapide gebessert. Neuzugänge wie Jon Dahl Tomasson beanspruchten den Platz in der Startelf. Die Jugend welkte schnell dahin – oder sie verließ den Klub.

Ganz ähnlich verlief es auch mit dem Dortmunder Modell, das Trainer Bert van Marwijk aus Mangel an Alternativen etablieren musste. Der Klub stand wirtschaftlich vor dem Aus, van Marwijk bestückte das halbe Team mit Eigengewächsen wie Nuri Sahin, Marc-André Kruska, David Odonkor und Markus Brzenska. Allesamt ausgebildet in Dortmund, spielten sie eine mehr als passable letzte Saison und verschafften der Borussia auch bei den Fans wieder Kredit. Weil die Sanierung aber unerwartet gut voranschritt und Dortmund wirtschaftlich rasch in ruhiges Fahrwasser geraten ist, erteilte Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke einen Erlass, der das Bild des Dortmunder Teams gegenüber der Vorsaison grundlegend veränderte: „Wir hatten uns entschlossen, die Transfererlöse zu reinvestieren.“ So kamen Alexander Frei, Nelson Valdez, Tinga und Steven Pienaar nach Dortmund. Watzke rechtfertigt den Kurswechsel mit den gestiegenen Ansprüchen. „Ich kann ja nicht sagen, wir spielen nur mit 19-Jährigen, die am Borsigplatz geboren worden sind.“ Es sei ein Abwägen, sagt Watzke, und wirft ein: Die Integration funktioniere nur dann, wenn tatsächlich ordentliche Jugendarbeit geleistet wird, wenn die Späher Talente sichten, die Perspektive versprechen. Hertha BSC ist ein solcher Aufwand mehr als vier Millionen Euro pro Saison wert. Mehr Geld gibt nur der FC Bayern aus, der mit Philipp Lahm, Owen Hargreaves, Andreas Ottl, Bastian Schweinsteiger und Michael Rensing beileibe nicht die schlechtesten Kicker aus dem Profikader selbst ausgebildet hat.

Überhaupt ist die Jugendarbeit dazu angetan, nicht nur in Zeiten der Finanzkrise von Vorteil für die Klubs zu sein: Der wirtschaftlich gesundete VfB stürmte am Wochenende mit den Nachwuchsleuten Sami Khedira, Serdar Tasci und Mario Gomez auf den zweiten Bundesligarang. Die Treffsicherheit von Gomez hat die Stuttgarter inzwischen vergessen lassen, dass er Tomasson verdrängt hat, für den man einen Millionenbetrag an Milan überwies.