GROSSZÜGIG IN DER BÜCHEREI
: Es gibt noch Berliner

Sie fragt mit ruhiger Stimme: „Wie kann ick Ihnen helfen?“

Immer wenn man denkt, dass es keine echten Berliner mehr gibt, trifft man einen. Und staunt dann oft über diesen bemerkenswerten Menschenschlag, hinter dessen ruppiger Fassade die großzügige Toleranz für menschliche Eigentümlichkeiten zu oft unbemerkt bleibt.

So wie zuletzt in der Berliner Stadtbücherei in Mitte. Diese ist über die Jahre zu einer Verwahranstalt für ältere Herren geworden. Unrasiert und mit schütter gewordenem Haar sitzen sie am Computer und studieren mit der Lupe wirre Formeln aus dem Internet. Oder sie verbergen sich hinter riesigen Buchstapeln, die sie für (wahrscheinlich vollkommen wahnsinnige) Recherchen brauchen. Vielleicht um zu beweisen, dass die Krim zu Russland gehört. Oder dass die Mauer eine Erfindung der Westpresse war.

Bei dem Kollegen, der vor mir an der Buchrückgabe steht, scheint der Realitätsverlust schon fortgeschritten. Anscheinend hat die briefliche Mahnung über ausstehende Bücher den großen, schweren Mann im Anorak nicht erreicht (mehrfach wird auf ein abgefallenes Briefkastenschild hingewiesen), und nun muss er 23 Euro Strafe zahlen. Er wird lauter und lauter; schließlich zieht er sein Handy aus der Tasche und brüllt: „Denn ruf ick eben die Polizei. Dann wern Se ja sehn.“

In vielen anderen Institutionen wäre dies der Zeitpunkt, an dem der Sicherheitsdienst den Besucher hinausbefördert. Hier aber erscheint aus dem Hintergrund eine Berliner Matrone und fragt mit ruhiger Stimme: „Wie kann ick Ihnen helfen?“ Sie nimmt den aufgebrachten Mann beiseite und erläutert ihm dabei geduldig immer wieder die Regeln. Ich höre nur noch: „Daran könn’ wir doch ooch nüscht ändern.“ Der säumige Kunde wird ruhiger. Irgendwann ist er leise verschwunden, und die anderen Männer können sich wieder ganz ihrer Lektüre widmen.

TILMAN BAUMGÄRTEL