Ganz am Ende kommt der Zorn

AUS RICHMOND (VIRGINIA) ADRIENNE WOLTERSDORF

Marshall Hicks findet Gott an diesem Sonntagvormittag in einer Hamburger- Bräterei. Es riecht nach altem Fett, aber der Kaffee ist billig, und die Sonne wärmt ihn durch die Scheiben. Die Bibel und die Richmond Times vor sich, fühlt sich Marshall Hicks, als gäbe es auf dieser Welt doch einen Ort, wo so einer wie er ein Zuhause hat. Ob er wählen wird am Dienstag, auf diese Frage gibt es für ihn kein Ja oder Nein. Soll man wählen, wenn man Paria ist? Soll ein Schwarzer in diesem Land Repräsentanten der modernen Plantagenaristokratie, den Weißen also, seine Stimme geben? Heißt wählen gehen nicht auch ein korruptes, rassistisches, diskriminierendes System unterstützen?

Hicks, blauer Overall mit aufgeplatzten Nähten, spricht langsam, weil er schon lange nicht mehr über diese Dinge gesprochen hat. Die Gedanken sind in ihm verrostet, weil er sie nicht mehr braucht. Seit damals, als er im Los Angeles der 60er-Jahre für die Bürgerrechte der Schwarzen kämpfte, als er Literatur studierte und seinem Land im Militär dienen wollte. „Wozu wählen?“, lautet seine Gegenfrage. Jede Revolution hat ihre Zeit, und jetzt ist keine Zeit. Vorbei.

„Wir sind Nigger“, sagt er, „Macaca.“ Hicks zeigt lächelnd auf die beiden jungen schwarzen Männer in schlabberigen Trainingshosen, die sich vorne am Tresen Milkshakes kaufen. „Die Hälfte von denen darf gar nicht wählen, weil sie einen Eintrag im Strafregister hat. Die andere Hälfte hat nichts zu verlieren – zahlt keine Steuern, besitzt keine Häuser und schickt ihre Kids nicht aufs College. Wozu also wählen?“ Seine demokratische Wahlkarte hat er immer bei sich, aber sie dient als Ersatz für seinen verlorenen Führerschein, mehr nicht.

60 Prozent der Bürger Richmonds sind schwarz. Doch die Identität der Hauptstadt des US-Bundesstaates Virginia ist weiß. Als einstige Metropole des Südens pflegt sie ihr Image als Zentrum der Konföderation. Virginia, Tabakland, das sich heute noch Commonwealth nennt, war zeit seiner Existenz ein in sich gespaltenes Territorium. Im Norden, um die US-Hauptstadt Washington herum, liberal, im Süden erzkonservativ. Die beiden Kandidaten für den Senatssitz im US-Kongress haben deshalb seit Monaten alles versucht, das jeweils andere Virginia von sich zu überzeugen. Eine echte Mehrheit hat keiner von ihnen gewonnen, deshalb wird hier der Wahlausgang mit besonderer Spannung erwartet.

Cowboy- gegen Kampfstiefel

An ihren Schuhen lässt sich noch am ehesten erraten, wofür die beiden Kandidaten stehen. George Allen, der amtierende republikanische Senator und Bush-Freund, gibt gerne mit spitzen Lederstiefeln den Cowboy. Jim Webb, der demokratische Herausforderer, der noch unter Präsident Ronald Reagan als republikanischer Marineminister diente, trägt demonstrativ die Kampfstiefel des US-Militärs. Sein Sohn Jimmy ist seit drei Monaten im Irak. Webb sagt wie alle Demokraten, es sei Zeit für einen Strategiewechsel im Irak. Und wie die anderen sagt auch er nicht, was genau sich ändern müsse. George Allen hingegen strahlt energische Unbekümmertheit aus, also all das, wofür Präsident Bush zum Synonym geworden ist: Kampf gegen den Terror und niedrige Steuern.

Gaile Gaylier-Rubin klebt „Vergiss nicht, Jim Webb zu wählen“-Sticker auf kleine Türschildchen. Nachher werden Helfer sie überall an Haustürknäufe hängen. Gaylier-Rubin ist erst heute Vormittag von einer Geschäftsreise aus Florida zurückgekommen, vom Flughafen aus ging’s gleich ab ins Wahlkampfbüro in Fairfax bei Washington. Um sie herum sitzen zwölf ehrenamtliche Wahlhelfer, jeder an einem Telefon, sie arbeiten freundlich in den Hörer murmelnd Telefonlisten ab. Es sind die allerletzten Tage vor der Wahl, und die Botschaft lautet „Get out the vote“ – Erinnerungsanrufe für die, die mit Jim Webb sympathisieren. Tausende Anrufe will Ginny Lehrer-Peters heute zusammen mit den fünf Telefonzentralen schaffen, die sie betreut. An die 30.000 Erinnerungszettel sollen ihre Ehrenamtlichen noch an die Haustüren des Wahlkreises in Nordvirginia heften.

Noch nie hat die Geschäftsfrau so etwas gemacht: Zettel für einen Kandidaten kleben, den sie eigentlich mittelmäßig findet. „Aber die USA haben jetzt drei Wahlen hinter sich, bei denen Stimmen unterschlagen wurden. Das macht mir Angst“, sagt sie. „Auch wir Amerikaner sind nicht immun gegen den Faschismus, wir sind so selbstgefällig geworden, da musste ich einfach herkommen und helfen.“ Sie hat jüdische Verwandte in Europa, war selbst vor kurzem dort. „Es war mir unangenehm, zu sagen, dass ich Amerikanerin bin. Der Irakkrieg und alles – es ist furchtbar, was wir in der Welt anrichten.“

Ein Gefühl grimmiger Entschlossenheit ist in den in Graubeige gehaltenen Büroräumen voller Plakate und Zettelkisten auszumachen. Die Freiwilligen sind nett zueinander. Aber Enthusiasmus? Spaß? Kaum.

Ein paar Straßen weiter lässt sich gerade ein älterer Patentberater in die Tabellenmystik der Telefonlisten einweihen. Steven Gottlieb zögert noch, die erste Nummer zu wählen, aber dann gibt ihm sein Zorn den nötigen Schwung. „Mich ekelt diese Bush-Administration an“, wettert er, bevor er wählt. „Deshalb bin ich heute hier. Der Irakkrieg und diese selbstherrliche Politik müssen unbedingt aufhören.“ Was sagt er zum Kandidaten Webb, zu den Demokraten? „Sie sind eigentlich inkompetent. Wenn sie es diesmal nicht schaffen, den Kongress zurückzugewinnen, sollten sie sich auflösen“, antwortet Gottlieb und spitzt den Bleistift, mit dem er die „Erledigt“-Kästchen hinter den Wählernamen ankreuzen wird.

Da denkt kein Wähler an Sex

Über den Wahlkampf in Virginia wird man sich später einmal wunderbare Anekdoten erzählen. Denn obwohl es der Krieg im Irak ist, der die Wähler polarisiert, sind es banalste Entgleisungen, über die heftig debattiert wird. Erst im August hatte der republikanische Senator Allen, 54, erfahren, dass er Jude ist. Seine in Tunesien geborene Mutter hatte es ihm ersparen wollen, das zu erleiden, was ihrer Familie in der alten Welt zugestoßen war. Allen, besorgt um seine christliche Wählerschaft, ließ daraufhin hemdsärmlig wissen, er esse weiterhin Schinkensandwich. Einige Wochen zuvor hatte er einen indischstämmigen Mitarbeiter aus dem Wahlkampfteam seines Gegners als „Macaca“, als Affen, beschimpft. Das Webb-Lager kreierte daraufhin in Anspielung auf Allens neu entdeckte jüdische Identität den Namen „Macacawitz“.

Derart provoziert, begann nun das Allen-Team, sich die Kriminalromane des Hobbyautors Jim Webb genauer durchzulesen. Die spröden Sexszenen darin sollten als Beweis für den moralischen Verfall des demokratischen Kandidaten herhalten – eine Strategie, die nicht aufging, wohl weil bei Familienmensch Webb wirklich keiner an Sex denkt. Seitdem liest er bei seinen Wahlkampfauftritten genüsslich die wohlmeinenden Rezensionen seiner Krimis vor.

Der Sonntagmorgen vor der Wahl gehört, wie jeder Sonntagvormittag in Südvirginia, Gott und der Kirche. Zweihundert Gläubige – Frauen, Männer, Chorknaben und Gemeindehelferinnen – sind in der alten Baptistenkirche zusammengekommen. Altpastor Peter Flamming hat seine Predigt sorgsam vorbereitet. Völlig unpolitisch sollte sie sein, erklärt er später, denn seine Gemeinde ist nur im Glauben vereint, politisch aber tief gespalten. Er hat das Thema Jesu Vergebung und Liebe gewählt. Mit keinem Wort erwähnt er das Referendum, das am Dienstag zusätzlich zur Senatswahl ansteht. Wie in neun anderen US-Bundesstaaten auch sollen die Wähler darüber abstimmen, ob in der Verfassung Virginias künftig die Ehe als Bündnis von „einem Mann mit einer Frau“ festgeschrieben wird.

Nach dem Abendmahl geht Robert Hudgins langsam die Kirchenstufen hinunter, an der Straße wartet er auf seine Frau, die ihn mit dem Auto abholen will. Hudgins trägt eine coole Sonnenbrille und einen weißen Mantel. Er ist 80 Jahre alt, hat im Zweiten Weltkrieg gedient. Schuld, Vergebung, Jesus, das Referendum gegen die Homoehe, der Irak, der Kongress – das sind Themen, die ihn nicht mehr aus der Ruhe bringen können. Dass eine Ehe nur zwischen Mann und Frau sein soll, das anzunehmen sei er konservativ genug, formuliert er bedächtig. Vielleicht liege er da falsch. Und was Vergebung mit dem Irak zu tun habe, nun ja, das werde man in hundert Jahren wissen. „Vielleicht haben wir uns da geirrt“, sagt Hudgins. „Dann werden uns die Iraker eben vergeben müssen.“