Das Kind von Woyzeck

Der Mensch als Affe macht vieles möglich. Die Peitsche bleibt der rote Faden. Ulrich Greb inszeniert einen furiosen neuen Szenenmix von Georg Büchners Drama-Fragment am Schlosstheater in Moers

VON PETER ORTMANN

Donnernd rollt die hölzerne Rampe auf die Zuschauer zu. Die Protagonisten in Büchners Fragment „Woyzeck“ springen in die Manege, die sich Welt nennt. Woyzeck selbst hat einen Pferdeschwanz. Der Tambourmajor ist eigentlich Rotpeter, Kafkas Affe. Mittendrin Eva Müller als Domina-Ausruferin mit Peitsche, aber auch als Christian, Kind von Woyzeck und Marie. Das ist sonst eher eine Randfigur der Handlung, bei der Inszenierung von Ulrich Greb am Moerser Schlosstheater mittendrin im Chaos, das sich Leben nennt. Furios und schrill geht es hinein in die Handlung, in der es um die Frage geht, wie weit die Würde eines Menschen verletzt werden kann, der damals wie heute unter sprechenden Affen zu leben scheint.

Theaterchef Greb hat die Personen im „Woyzeck“ neu gemischt und das nicht ohne Grund. Sohn Christian ist die Zukunft des gebeutelten Individuums, er ist das eigentliche Opfer der bekannten Liebes-Mord-Geschichte. Mutter tot, Vater für immer arrestiert, dieses Kind ist die zentrale Figur hinter der Handlung, in der der „Aff bereits Soldat ist“. Dieser nie hinterfragte Fortschritt der menschlichen Zivilisation lässt die Verbindungslinien zwischen den handelnden Personen bei Büchner leuchten wie Leuchtspurmunition. Die Peitsche ist der eigentliche rote Faden. Bis heute geht es um eine gezielte Dressur der Menschheit, die – anders als der Affe bei Kafka – nie reflektiert, sondern lieber auf das nächste Zuckerstückchen wartet. Bei Woyzeck ist das Abrichten leicht. Nicht die Züchtigungen und Entwürdigungen („beweg den Herren doch mal die Ohren“) quälen ihn, selbst die öffentliche Masturbation nicht – ihn interessiert das Geld, das seine Armut kurzfristig lindert und ihn bei seiner Marie als Gatte legitimiert, auch wenn sie ihn mit dem Affen in Uniform betrügt. Und so würgt er in altbekannter Manier die Erbsen hinunter, die ihm der Doktor mit äffischer Fortschrittsgläubigkeit in den Rachen stopft. „Er kriegt Zulage“ sagt der Pseudo-Mediziner. Die paar Münzen bleiben die Feder, die Woyzeck hüpfen lässt und die auch in der zeitgenössischen Welt die Menschenaffen bewegt. Doch irgendwann schlagen die medizinischen Experimente zurück, die Erbsen überfluten in Moers die Bühne. Doch da ist der Gequälte längst der Realität entkommen und schafft die nicht zurücknehmbaren Tatsachen seiner getöteten Liebe – der Endpunkt einer gelungenen Dressur.

„Eine sehr spezielle Sicht auf das Stück“, sagt der Regisseur zu seiner Arbeit mit Live-Musik von Michael Schneider. Mit der Inszenierung startete das Schlosstheater die neue Spielzeit, die unter der Überschrift „Geld oder Leben“ steht. Greb und seine Mitstreiter beschäftigen sich mit den Folgen von Armut in den verschiedensten Formen – in ihrer sozialen ebenso wie in ihrer emotionalen Dimension. Da passt Büchners Fragment, das im kleinen Theater noch nie gezeigt wurde bestens. In der Moerser Inszenierung stehen die unsichtbaren Verstrickungen der Personen untereinander im Vordergrund. Wie viele Menschen in der heutigen Gesellschaft ist Woyzeck schuldlos in seine prekäre Lage zwischen militärischem Kadavergehorsam ohne ausreichenden Sold und Qual im Operationssaal zur finanziellen Aufbesserung gekommen. Er will es dennoch schaffen und nutzt alle Wege, die ihn aus der sozialen Misere herausführen könnten. Sein Aufbäumen bleibt ohne Resultat. Das ist ein treffender Vergleich mit der aktuellen Unterschichtdebatte.

17. November, 19:30 UhrInfos: 02841-26690