Spannungsbögen in Echtzeit

KONZERTKRITIK Das Splitter Orchester spielte im Radialsystem auf. In ihrem ersten offiziellen Konzert gab sich die Allstar-Großformation der Berliner Improvisationsszene äußerst diszipliniert

Ein Orchester zu bändigen ist keine leichte Aufgabe. Damit die Sache einigermaßen rund läuft, gibt es in der Regel Dirigenten. Für gewöhnlich spielt man dabei nach Noten. Wie koordiniert man jedoch ein Ensemble aus Musikern, die frei improvisieren? Das Berliner Splitter Orchesters, ein Zusammenschluss von 24 Musikern der „Echtzeitmusik“-Szene, übte monatelang, bis man sich am Samstag im Radialsystem erstmals an die Öffentlichkeit wagte. Ohne Dirigent.

Fast wie ein klassisches Orchester sitzen die Musiker im Raum verteilt. Vorne rechts die beiden Kontrabässe, daneben zwei Celli, in der Mitte Holz- und Blechbläser, hinten die Schlagzeuger. Dazwischen sieht man Laptops, einen Plattenspieler ohne Schallplatten und selbst gebautes elektronisches Gerät. Sehr leise beginnen die Musiker mit vereinzelten Tönen, hier und da ein sachtes Brummen oder Knacken, die Trompeten schnauben vor sich hin, viele Klänge lassen sich kaum einem bestimmten Instrument zuordnen.

Die Einzeltöne verdichten sich zu einem langsam anschwellenden Fluss, immer wieder punktiert von Ausbrüchen der Schlagzeuger, nur wenige Musiker scheren hin und wieder aus dem Gesamtgefüge aus.

Die freie Improvisation bewegt sich in einem Raum, in dem Einflüsse aus Free Jazz über Noise Rock bis zu abstrakter Elektroakustik aufeinandertreffen. Was man dabei kaum findet, sind herkömmliche Melodien, erst recht keine tonalen. Stattdessen herrschte in der Berliner Szene über Jahre ein strenger Reduktionismus vor, bei dem sich die Musiker oft auf das gemeinsame Produzieren von Geräuschen konzentrierten. Über den Charakter der Musik entschied man im Moment des Spielens, daher der Name „Echtzeitmusik“.

Als die Harfenistin Clare Cooper und der Bassist Clayton Thomas vor drei Jahren von Sydney nach Berlin umsiedelten, brachten sie nicht nur ihre Instrumente mit, sondern auch eine Idee, wie man die hiesige Szene bereichern könnte. In ihrer Heimatstadt hatten sie zuvor in der Improvisationsgroßformation Splinter Orchestra gespielt, und dieses Konzept wollten sie auf die Berliner Verhältnisse übertragen. Gemeinsam mit Gregor Hotz, Betreiber der Berliner Improvisationsinstitution Ausland, gründeten Cooper und Thomas dann im April das Splitter Orchester.

Ein bisschen dachte man wohl auch an das 1966 vom Free-Jazz-Pianisten Alexander von Schlippenbach in Berlin gegründete Globe Unity Orchestra, mit dem damals die deutsche Free-Jazz-Szene gebündelt wurde.

Und tatsächlich versammelt das Splitter Orchester zentrale Figuren der Berliner Improvisationsszene wie den Perkussionisten Burkhard Beins, den Turntablisten Ignaz Schick oder den Kontrabassisten Werner Dafeldecker. Von der provokativen Unbändigkeit des Free Jazz haben sich die heutigen Protagonisten allerdings weitgehend entfernt. Stattdessen beweisen sie, dass man auch ohne Noten in großer Besetzung Spannungsbögen erzeugen und nuanciert spielen kann. Und bei Bedarf auch mal richtig laut werden.

TIM CASPAR BOEHME