„Wir haben uns der Geschichte gestellt“

Mit der Novelle des Stasiunterlagengesetzes soll die Aufarbeitung der SED-Diktatur sichergestellt werden, sagt Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse. Es gehen nun darum, das ganze politische System genauer zu untersuchen

taz: Herr Thierse, am Freitag sollte im Bundestag die Novellierung des Stasiunterlagengesetzes beschlossen werden, doch der Punkt wurde von der Tagesordnung genommen. Wesentliche Änderung: im öffentlichen Dienst soll die Regelanfrage über eine mögliche frühere Zuarbeit zum Staatssicherheitsdienst der DDR entfallen. Opferverbände und frühere Bürgerrechtler sind strikt dagegen. Zu Recht?

Wolfgang Thierse: Nein. Es stimmt nicht, dass wir einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen und die Aufarbeitung des SED-Unrechts beenden wollen. Im Gegenteil, wir wollen die sogenannte Regelüberprüfung durch eine differenziertere Regelung ersetzen, damit Überprüfungsmöglichkeiten von Personen in herausgehobenen Funktionen und Ämtern beim Vorliegen tatsächlicher Verdachtsmomente auch in Zukunft möglich bleiben.

Sie wollen auch den Zugang zu den Akten für wissenschaftliche und publizistische Zwecke erweitern.

So sollen die Aufarbeitung, die politisch-moralische Bewertung und die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit fortgesetzt und intensiviert werden. Die Absetzung von der Tagesordnung bedeutet keine inhaltliche Festlegung über eine mögliche Änderung des Gesetzentwurfs, sie ist dem Diskussionsbedarf seitens der CDU geschuldet.

Die Länder Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern verzichten schon seit Jahren auf die Regelüberprüfung.

Darüber hat es wenig Aufregung gegeben. Das zeigt doch, dass unser Vorschlag gar kein so großer Einschnitt wäre. Der Gesetzgeber von 1991 hat nach langer und intensiver Diskussion gesagt, wir wollen für 15 Jahre eine rechtsstaatliche Ausnahmesituation und eine Einschränkung von Persönlichkeitsrechten gelten lassen. Doch: Verjährung ist ein wichtiges Gut im Rechtsstaat. In Analogie dazu sollte eine ähnliche Regel für begangene persönliche Gemeinheiten, Spitzeleien und Denunziantentum gelten.

War die bislang gültige Regelüberprüfung erfolgreich?

Das Wort erfolgreich ist hier fehl am Platz. Festzuhalten ist: über fünf Millionen Anträge auf Überprüfung hat es bisher gegeben. Zwei Millionen wurden durch die Bürgerinnen und Bürger veranlasst, drei Millionen durch die Behörden. Man kann also schon sagen, dass in Ostdeutschland mit großer Wahrscheinlichkeit sämtliche Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes irgendwann einmal überprüft wurden. Insofern war das eine gründliche Durchleuchtung der Vergangenheit. Ich denke, dass ein Verdacht qua Herkunft heute keinen Sinn mehr macht: Weil jemand Ostdeutscher ist, wird er prinzipiell verdächtigt, mit der Staatssicherheit zusammengearbeitet zu haben, während das in Westdeutschland weder der Fall war noch sein wird.

Die Überprüfungen im öffentlichen Dienst sind das eine. Eine andere Aufgabe des Stasiunterlagengesetzes ist es, den Opfern den Zugang zu ihren Akten zu ermöglichen.

Das soll auch so bleiben! Es hat viele Fälle gegeben, in denen die Menschen durch den Einblick in die Akten ihre Lebensgeschichte und die Brüche darin rekonstruieren konnten. Und es hat viele Fälle gegeben, in denen frühere Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes aus dem öffentlichen Dienst entfernt werden konnten. Insgesamt haben wir eine beträchtliche Leistung vollbracht. Wir Deutsche haben uns unserer Geschichte gestellt – früher, gründlicher und energischer als andere exkommunistische Länder.

Die ehemaligen Offiziere der Stasi melden sich immer häufiger mit ihrer Sicht der Dinge zu Wort. Die würden das Ende der Regelüberprüfungen nun als Erfolg feiern, behaupten die Kritiker der Gesetzesnovelle.

Das sehe ich so nicht. Wir wollen ja auch weiterhin einen ziemlich großen Personenkreis überprüfen können – vom Minister über den Abgeordneten zum Leiter einer Behörde bis zu führenden Sportfunktionären. Wer eine Vertrauensstelle innehat, kann überprüft werden. Darüber hinaus wollen wir, wie gesagt, den Zugang zu den Unterlagen für publizistische und wissenschaftliche Zwecke ausweiten. Auch das werden die ehemaligen Stasioffiziere kaum als ihren Sieg feiern können.

In der Öffentlichkeit herrscht heute der Eindruck, die DDR sei eher an der Staatssicherheit als an der SED-Diktatur gescheitert.

Das ist die Folge einer Fixierung auf die Inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi, der erfolgten Denunziationen und der Spitzeleien überhaupt. Die eigentlich Verantwortlichen waren aber die offiziellen Mitarbeiter des Systems, also die SED-Herrschaften. Das muss man immer wieder in Erinnerung rufen. Deshalb wollen wir mit der Novellierung des Stasiunterlagengesetz auch den Gegenstand der Aufarbeitung weiter fassen: Über die Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes hinaus sollen das ganze politische System und die Herrschaftsmechanismen insgesamt Untersuchungsgegenstand werden. Das ist eine Akzentverschiebung, die wir ganz bewusst vornehmen wollen.

INTERVIEW: WOLFGANG GAST