Diktatoren als Ventil

GEHEIMNISVERRAT IM INTERNET Auch die Christopherus-Grundschule in Dorsten ist beteiligt an den weltweiten Enthüllungen von Wikileaks

Intern werden den Schülern die Namen von Diktatoren und anderen unbeliebten Politikern gegeben

Bevor sich Ingeborg Bolting anschickt, die Hintergründe des größten diplomatischen Skandals der Nachkriegsgeschichte zu erläutern, lässt sie die Vertreter der internationalen Presse das Lied vom kleinen Maulwurf singen. „Wir fangen hier immer mit einem Lied an“, gibt sie sich unnachgiebig. Der Rektorin der Christopherus-Grundschule in Dorsten ist es sichtlich unangenehm, derart im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit zu stehen. „Das ist auch für mich die sechste Stunde“, herrscht sie die versammelten Journalisten an, nachdem sich das Blitzlichtgewitter gelegt hat. Dann legt sie demonstrativ den Finger auf den Mund. „Wir fangen erst an, wenn alle still sind.“

„Ja, es stimmt“, fährt sie fort. „Im internen Gebrauch geben wir unseren Schülern die Namen von Diktatoren und anderen unbeliebten Politikern. Das ist für uns Lehrer ein gutes Ventil, um Frustrationen und Stress abzubauen. Außerdem kann man sich die leichter merken.“

Wie und warum die Protokolle der letzten Zeugniskonferenz an der Christopherus-Schule aber Wikileaks zugespielt und dort als Berichte amerikanischer Diplomaten über internationale Spitzenpolitiker gewertet worden seien, wisse sie nicht, gibt die resolute Rektorin zu, sie verstehe aber auch nichts von Politik.

Immerhin vermag der pädagogische Hintergrund den herabwürdigenden Ton der Dokumente zu erklären. „‚Arschlochkind‘ ist ein gängiger pädagogischer Fachausdruck“, entschuldigt Bolting die unverblümte Wortwahl der auf Wikileaks veröffentlichten Dokumente. „Ich habe aber nie den Herrn Bundesaußenminister als ‚Arschlochkind‘ bezeichnen wollen. Er ist ja auch gar kein Kind. Außerdem möchte ich betonen, dass wir unsere Schüler als menschliche Wesen mit ihren Stärken und Schwächen ernst nehmen.“

Bolting lächelt dünn. Ihre Verteidigung klingt ebenso dünn, zumal neben der Weltpresse jetzt auch noch die Elternpflegschaft Wind von der Sache bekommen hat, und mit der ist wirklich nicht zu spaßen.

In geistiger Hinsicht „wenig Substanz“ wird „Westerwelle“, hinter dem sich die „überschäumende Persönlichkeit“ eines zehnjährigen ADHS-Patienten verbergen soll, unterstellt, Klassensprecherin „Merkel“ dagegen bekommt zwar „Durchsetzungsvermögen“, jedoch „mangelnde Kreativität“ attestiert, und „Niebel“ schließlich könne „bei aller Liebe keine Gymnasialempfehlung“ ausgestellt werden, auch wenn er allen Kollegen „irgendwie leidtue“. Lediglich der Klassenprimus mit dem Decknamen „Guttenberg“ findet Gnade vor den strengen Augen der Pädagogen: „Ein netter Junge, und so artig. Außerdem kann er mit Messer und Gabel essen.“ Allerdings wird er übereinstimmend als Petze beschrieben.

Den zahlreichen Schülern mit Migrationshintergrund wird ebefalls kein guter Leumund und erst recht keine Gymnasialempfehlung bescheinigt. Ein gewisser „Netanjahu“ sei zwar „charmant und intelligent“, aber chronisch unzuverlässig, die Schüler „Ahmadinedschad“ und „Erdogan“ unverbesserliche Rüpel, während „Chávez“ und „Gaddafi“ gar ein Besuch beim schulpsychologischen Dienst empfohlen wird.

Die Dokumente beleuchten bisweilen erschütternde soziale Verhältnisse: „Berlusconi wiederholt verspätet u. mit Alkoholfahne zum Unterricht erschienen“ ist da etwa über einen Viertklässler zu lesen, der „vermutlich viel älter „ sei als die offiziell angegebenen 11 Jahre. „Berlusconi“ lasse sich ferner von einem gewissen „Putin“, der gern das „Alphatier“ mime, zu zwielichtigen Geschäften auf dem Pausenhof überreden. Hinter „Berlusconi“ verbirgt sich ein Dorstener Gastwirtssohn, der als einziger der Betroffenen mit der Presse zu reden bereit war. Er habe „gut gelacht“, gab der joviale Grundschüler mit dem dunklen Bartschatten zu Protokoll. Nicht alle sehen die Affäre so gelassen.

„Man tut immer so freundlich nach vorne, und hinten sieht es aber ganz anders aus“, härmt etwa Claudia R., die zwar keine Kinder an der Schule, aber dennoch eine Mahnwache auf dem Schulhof initiiert hat, um ein „Zeichen der Toleranz und Verständigung zu setzen“.

Die Elternpflegschaft verlangt eine unabhängige Untersuchung und droht der Schulleitung mit finanziellen Sanktionen: Bereits zugesagte Mittel des Fördervereins sollen eingefroren werden. Erste Stimmen fordern gar einen Rücktritt Boltings. „Wir arbeiten mit der Elternpflegschaft eng und freundschaftlich zusammen, und das wird auch so bleiben“, versucht sich die angeschlagene Rektorin in Schadensbegrenzung. Die internationale Presse hat zu diesem Zeitpunkt zwar schon das Interesse an dem Fall verloren, muss aber noch zum Tafeldienst bleiben. CHRISTIAN BARTEL