In die Luft ballern und abgehen

Gemischtwarenladen für eine Zeit, in der sich die ästhetische Wahrheit aufgefächert hat: Bremens Generalintendant Klaus Pierwoß läutet seine letzte Spielzeit ein. Zum Abschied werden Publikumslieblinge und Klassiker ohne teures Gastpersonal gereicht. Stars sind immer wieder die Ensembles

VON JENS FISCHER

Und jetzt: Finale. Das Ende der 13. und letzten Spielzeit des Bremer Generalintendanten Klaus Pierwoß. Bestandsaufnahme, Resümee und eine Art Vermächtnis. „Highlights“ der vergangenen Jahre stehen wieder auf dem Spielplan, Regisseure bedanken sich für des Intendanten Treue und die Zuneigung des Ensembles. Vorsorglich darauf hinweisen: Da war was. Keine Episode, sondern eine Ära. Die beim letzten künstlerischen Aufbäumen die Chance hat, Bremen hinter Hamburg wieder als Theaterstadt Nummer zwei im Norden zu etablieren, nachdem Hannovers Opernintendant Albrecht Puhlmann nach Stuttgart weggelobt worden ist.

Neben der Finis-Euphorie regiert am Bremer Theater aber auch Angst: Eitel genug ist man, anzunehmen, dass nach Pierwoß die Sintflut kommt. Untergangsstimmung herrscht angesichts jahrelanger Etatkürzungen und eines Nachfolge-Intendanten, Hans-Joachim Frey. Dessen Bereitschaft, weniger Geld in weniger Spielstätten auszugeben, hat beim Kultursenator reichlich Freude ausgelöst. So fühlte sich Pierwoß zu dem etwas arroganten Aufruf animiert, zu kommen, „solange Ihr Bremer Theater noch in dieser Qualität zu erleben ist“.

Qualität? Da geht Pierwoß auf Nummer sicher. Mit neuen Auslastungshöchstwerten scheint er sich verabschieden zu wollen. Wenig Mut auf Neues herrscht, vielmehr reichlich Lust auf Klassisches. Stadttheater der alten Schule mit neuer Bedeutung, ein Gemischtwarenladen für eine Zeit, in der sich die Wahrheit, auch die ästhetische, in diverse Teilwahrheiten aufgefächert hat.

In der Oper etwa heißt Pierwoß’ Erfolgsrezept: Schauspielregisseure wenden die Errungenschaften des Regietheaters auf das Musiktheater an. Demnächst in den Hauptrollen: Konstanze Lauterbach und Debussys „Pelleas und Melisande“. Zuvor musste aber mit Regisseur Andrej Woron ein fideler Publikumshit her. Der ist mit seiner Neigung, Werke lieber pittoresk zu verhüllen als tiefenscharf auszuleuchten, in der Oper deutlich besser aufgehoben als im Schauspiel. Und so triumphiert er mit „Hoffmanns Erzählungen“ von Jacques Offenbach. Die malerische Aufführung überzeugt auch musikalisch – umso bemerkenswerter, als sie ohne teure Gaststars auskommt. Der Star ist das Ensemble.

So wie in der Tanz-Sparte: Zehn Bewegungskünstler gehören Urs Dietrichs Ensemble an. Und heißt die Saisonpremiere auch „Voll-Da-Neben“: Weder ist die Inszenierung je voll da, noch voll daneben. Originalität blitzt auf, aber immer sind alle auf der Suche nach einer eigenen Ästhetik, mit der die losen dramatischen Fäden auch mal poetisch versponnen werden könnten.

Im Schauspiel beginnt das Finale mit Strömen von Lachtränen über Publikumswangen: „Der nackte Wahnsinn“, Michael Frayns kluger Klamotten-Klassiker, als komödiantischer Parforceritt. Darauf einen „Totentanz“, Endspiel menschlicher Beziehungen. In der leichthändigen, recht musikalischen Regie von Karin Henkel ist die Distanz zwischen den Figuren so groß wie die Nähe. Intimität als Bedrohung, Liebe und Hass als verschiedene Formen Desselben. Aus diesen Widersprüchen entwickelt Henkel das Drama. Feinkost für fein gegen den Strich besetzte DarstellerInnen.

Bleibt das konzeptionelle Theater. Renaissance der Russen, Gorki und Tschechow. Ja, ist denn die aktuelle Jammerei zu vergleichen mit jenem langen Seufzer, mit dem die übermüdete russische Aristokratie vor der Geldgesellschaft ihre Seele auszuhauchen begann? Die Regisseure Michael Talke und Markus Dietz bejahen und interpretieren „Die Möwe“ und „Sommergäste“ sehr ähnlich: melancholische Tragödie als Komödie. Talke und Dietz zeigen entwurzelte, erschlaffte Seelen, die erreicht haben, was sie wollten, und jetzt nichts anderes mehr wollen, als das Erreichte behalten. Gelegentliche Implosionen wütender Hoffnungslosigkeit aktivieren ins Leere rasendes Palaver.

Wie soll man das verdammte Leben aushalten? Man ignoriert es einfach. So ist der Mensch, und er ist zum Lachen, meint Tschechow. Er könnte sich ändern, fordert Gorki. Aber die Party geht weiter. Keiner stirbt mehr, weil keiner richtig lebt. Auch „Möwe“-Künstler Kostja hält den von Tschechow vorgesehenen Selbstmord für überflüssig, so somnambul wie die (Bühnen-) Gesellschaft beim „Bingo“-Spiel dahinvegetiert. Also ballert der Sohn nur resigniert in die Luft – und geht ab.

Talke bedient sich dezent aus dem Supermarkt der Regieeinfälle, nimmt das Stück auseinander, setzt es – hier verkürzt, dort verdichtet – wieder zusammen. Regietheater alter Schule. Dem Dietz eines noch älterer Schule entgegenstellt: Er findet zu fein nuanciertem Psychorealismus, zeigt detailliert erarbeitete, geradlinig erzählte „Sommergäste“. Ein Abend, bei dem alle DarstellerInnen brillieren dürfen. Diese sollen Regisseure und Intendanten in die Vorstellungen einladen, erläutert Pierwoß, „um sich so für andere Theater zu bewerben“. Stadttheater als Agentur für Arbeit. Finale!