Botox für die Bausubstanz

Was früher die Abrissbirne platt machte, wird heute lieber umgenutzt. Der Wechsel von Alt und Neu verändert die Perspektive und belebt das Stadtbild.

„Wir müssen eine Kultur des Umgangs mit der Ruine entwickeln.“

Von Felix Denk

Selbst Leerstand kann zum Standortvorteil werden. Man muss nur kreativ damit umgehen. Brachliegende Räume lassen sich vielfältig füllen - von der Kunstausstellung zur illegalen Party. Oft sind es schillernde Gestalten, die Umbruchsituationen nutzen. Ein Beispiel: Anfang der 60er Jahre war SoHo so gut wie am Boden. Seit die Textilindustrie aus dem New Yorker Stadtteil abwanderte, verwaisten die alten Lagerhallen und Fertigungsgebäude. Hinter den Gusseisenfassaden klafften leere Hallen, was einen Rattenschwanz aus sozialen Problemen und Kriminalität nach sich zog. Wer hier lebte, musste sich was einfallen lassen, um über die Runden zu kommen. David Mancuso zum Beispiel, ein musikbegeisterter Taxi-Fahrer, der zwar wenig Geld hatte, aber unendlich viel Platz: Er allein bewohnte eine leere Fabriketage und begann eines Tages so genannte Rent-Parties zu machen: Jeden Samstag verwandelte er sein Loft in eine Disko. Bald tanzte von Andy Warhol bis Julian Schnabel alles, was Rang und Namen in der Kunstszene hatte, bei Mancuso zuhause.

Fabriketage, Wohnung, Disko - für SoHo mag Mancuso ein Pionier der Umnutzung gewesen sein; Leute wie er machten das Viertel in den 70er Jahren zur heißesten Adresse New Yorks. In der Architekturgeschichte indes gibt es viele David Mancusos. Schon in der Antike wechselten Bauwerke oft die Funktion. Aus griechischen Tempeln wurden christliche Kirchen. Aus römischen Kaiserpalästen erwuchsen ganze Städte. So entstand das kroatische Split, dessen Altstadt auf den Palastmauern des römischen Kaisers Diokletian ruht. „Die Umnutzung ist eine alte Überlebensstrategie des Menschen“, sagt der Architekturhistoriker Wolfgang Pehnt. Das hatte zuerst meist ökonomische Gründe: Der Rückgriff auf vorhandene Bausubstanz hält Aufwand und Kosten gering. Psychologisch dient er als Rückversicherung, um die Unwägbarkeiten von Umbruchprozessen abzufedern. Mit dem Blick zurück, geht man abgesichert nach Vorne.

Und gerade das ist heute mehr denn je ein Bedürfnis. In Deutschland macht Bauen im Bestand gegenwärtig mehr als die Hälfte aller architektonischen Eingriffe aus, in Amerika sogar 70 Prozent. Häufig sind das Ergebnis Um- und Zwischennutzungen von denkmalgeschützten Bauwerken. Solche Konversionen haben Konjunktur. Sie entwickeln sich zur dominanten Praxis der Architektur.

Dieser Trend folgt makroökonomischen Verschiebungen. Seit in der westlichen Welt die Städte eher schrumpfen als wachsen, verlieren oft riesige innerstädtische Flächen ihre ursprüngliche bauliche Bestimmung. Industrieterrains, Güterbahnhöfe oder alte Hafenviertel liegen infolge der Deindustrialisierung und neuer Transportmittel wie den Containerverschiffungen brach. Oft in besten Lagen. Auch Kirchen werden häufig nicht mehr zum Beten genutzt, sondern für kulturelle Zwecke.

Umnutzungen schreiben eine doppelte Geschichte: Einerseits wächst der Leerstand, weil unsere Gesellschaft für viele Bauwerke keine Verwendung mehr findet. Andererseits wird die Vergangenheit in ihren architektonischen Spuren präsent gehalten. Wenn aus Kirchen Konzerthallen werden und Umspannwerke in Tanztheater und Fertigungshallen in Lofts und Büros verwandelt werden, speichern die Gebäude Erinnerungen, die in ihren neuen Verwendungen weiterleben. Ganz praktisch schont das auch Ressourcen und verhindert eine weitere Zersiedelung der Städte. „Das Traditionsbewusstsein im Umgang mit alter Bausubstanz ist eine Entwicklung der 60er und 70er Jahre. Damals hat man sich getrennt von der Vorstellung, dass man alles aufräumen muss, bevor man neu planen kann“, sagt Wolfgang Pehnt. Der Moderne fehlte diese Umsicht mit der Vergangenheit. Ein extremes Beispiel ist Le Corbusier, der einflussreichste Architekt des 20. Jahrhunderts, der energisch gegen jede Form von Tradition und Gewohnheit kämpfte. Zurückschauen bedeutete für ihn nichts anderes als Rückschritt. Im Jahr 1925 entwickelte er den Plan, weite Teile der Pariser Altstadt rechts der Seine abzureißen und durch Hochhäuser zu ersetzen. Heute bedauert wohl niemand, dass das nicht umgesetzt wurde. Dieser Rigorismus, bei dem sich die Wirklichkeit den Planungen fügen sollte, ruht nun auf dem Friedhof der großen Ideen.

Dafür tauchen andere Totgeglaubte im Stadtbild auf. Neben Umnutzungen sind Rekonstruktionen ein großes Thema im Städtebau. Der Berliner Schlossplatz ist das prominenteste Beispiel. Der Schloss-Neubau soll historischen Vorlagen folgen, ohne dass eine konkret vorhandene Bausubstanz das legitimieren würde. Entsprechend sind die Rekonstruktionswünsche von willkürlichen Geschmacksvorstellungen geleitet und im Gegensatz zur Umnutzung a-historisch. Die Baugeschichte der Vorlage berücksichtigen sie nicht. Eine Praxis, für die Wolfgang Pehnt wenig Begeisterung aufbringt. Er plädiert stattdessen für einen längeren Atem im Umgang mit obsoleten Bauten: „Im Umgang mit alter Bausubstanz müsste man sich eine größere Geduld antrainieren. Weil wir nicht nur umgenutztes, sondern auch ungenutztes Bauwerk brauchen, sollten wir die Größe haben, etwas liegen zu lassen. Wir müssen eine Kultur des Umgangs mit der Ruine entwickeln.“ Konkret heißt das: Ruinen sichern oder provisorische Zwischennutzungen zulassen. Das, was mit dem Palast der Republik nicht geschehen ist. Ob das ein Fehler war, wird die Zukunft zeigen.

SoHo jedenfalls lebt sehr gut von seiner alten Bausubstanz - den engen Straßenschluchten, den Feuerleitern, den Backsteinfassaden aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Als das Viertel in den siebziger Jahren schick wurde, stiegen die Mietpreise. Galerien eröffneten und eine Zweigstelle des Guggenheim-Museum zog Besucher an. Heute prägen elegante Modeadressen von Prada bis Donna Karan das Straßenbild. Dazwischen leben kaum noch Künstler. Auch David Mancuso ist weggezogen, in die Lower East Side am anderen Ende Manhattans. Parties veranstaltet er immer noch.