Schrotflinten-Philosoph

„American Dog“: ein faszinierendes, aber unvollständiges Porträt des Krimi-Autoren James Ellroy (22.15 Uhr, Arte)

Jedes Jahr gibt es in Los Angeles zwischen 400 und 500 Morde, und nur rund 60 Prozent werden aufgeklärt. Man kommt also seit 1950 auf rund 10.000 ungeklärte Morde. Es sind erstaunliche Zahlen, die William Bratton, der Polizeipräsident von Los Angeles, in dem James-Ellroy-Porträtfilm „American Dog“ freundlich lächelnd präsentiert. Und fast noch erstaunlicher ist der Anlass für Brattons Auftritt: Er verleiht Ellroy nämlich die Ehrenmedaille der historischen Gesellschaft des LAPD. Ausgerechnet – kein Krimiautor hat die Geschichte des LAPD der Vierziger und Fünfziger glaubwürdiger als einen blutigen Abgrund aus Korruption, blinder Gewalt, Rassismus, Obsessionen und Willen zur Macht beschrieben wie Ellroy. Sein bekanntestes Buch dürfte „L. A. Confidential“ sein, die Verfilmung seines Romans „Die Schwarze Dahlie“ läuft gerade in den Kinos.

Tatsächlich bilden der Mord an Elisabeth Short von 1947, aus der die Medien die „Schwarze Dahlie“ machten, und der ebenfalls nicht geklärte Mord an Ellroys Mutter von 1959 die zwei Eckpunkte seines schriftstellerischen Schaffens. Um Letzteren verarbeiten zu können, verschmolz der kleine James ihn in seiner Fantasie mit Ersterem. So erzählt er es den Filmemachern Clara und Robert Kuperberg, und sie machen aus diesem Motiv das Zentrum von „American Dog“. Wenn er sich aussuchen könnte, welche Epoche er in einer endlose Schleife durchwandern müsse, sagt er gleich am Anfang, es wäre das Los Angeles der Jahre zwischen 47 und 59.

James Ellroy zu filmen ist ein Selbstläufer. Er ist ein glatzköpfiger Mann Ende fünfzig, trägt Schnauzbart und hat einen Gang, der Bullengewalttätigkeit der alten Schule ausstrahlt: den rechten Arm stets ein wenig abgespreizt, als würde eine Waffe im Halfter stecken, dazu ausgreifende, schwere Schritte. Wenn er spricht, hat er den gleichen atemlosen Ellroy-Sound, der sich auch durch seine Romane zieht: kurze Sätze, drastische Details, mit der Schrotflinte philosophieren. Clara und Robert Kuperberg haben sich für „American Dog“ eine Menge Mühe gegeben. Sie lassen Ellroy im offenen Auto durch ein nächtliches L. A. fahren, das in den verschiedensten Neonfarben leuchtet. Sie haben Bill Stoner aufgetrieben, den Expolizisten, der zusammen mit Ellroy Mitte der Neunziger versuchte, den Mord an dessen Mutter noch einmal aufzurollen.

Das ist nun zehn Jahre her. Und der Grund, warum „American Dog“ dann doch nicht richtig aufgeht, ist, dass die Filmemacher alles ignorieren, was seitdem passiert ist. Kein Wort über das riesige Romanprojekt, an dem Ellroy seitdem arbeitet und von dem schon zwei Bände erschienen sind. Kein Wort über seinen Wegzug aus L. A. Kein Wort aber auch über den Umstand, dass Ellroy verheiratet ist (mit einer feministischen Philosophieprofessorin) und ein Leben in der Gegenwart hat. Jenseits seiner toten Mutter, jenseits der Irrungen und Wirrungen, die seinem ersten Roman vorangingen.

Sehenswert ist der Film allerdings trotzdem. Und sei es nur wegen der Szene, in der man Ellroy beim Durchsehen der Tatortfotos der Leiche seiner Mutter über die Schulter schaut. Das kommt in seiner umfassenden Perversität nahe heran an seine Romane. TOBIAS RAPP