ACHSE DER INDIETRONIC – TOBIAS RAPP

Das Stück zum Schuh

Hitzige Debatten begleiten in den USA das Erscheinen des Überraschungsalbums dieses Herbstes. Die Indierock-Erneuerer LCD Soundsystem haben es als „Nike – Original Run“ herausgebracht, und wie der Titel schon andeutet, handelt es sich um den Soundtrack zum neuen Nike-Schuh, ein 45:33 Minuten langes Stück, das lose an die Dramaturgie eines Jogginglaufs angelehnt sein soll. Dürfen die das? Bedeutet die Freude an diesem Stück nicht, dass man die Arbeitsbedingungen in den indonesischen Nike-Fabriken gutheißt?

Das Stück ist exklusiv über den amerikanischen iTunes-Store erhältlich, was zumindest Europäer von dem Dilemma befreit, überlegen zu müssen, ob man für „Original Run“ 9,95 Dollar bezahlen möchte. Der amerikanische iTunes-Store lässt von europäischen Rechnern aus nämlich keinen Zugriff zu. Man muss also auf Tauschbörsen ausweichen. Ein schönes Gefühl eigentlich – mitten in der scheinbar universellen Verfügbarkeit von Musik wieder einem Track hinterherjagen zu müssen. Es lohnt sich. „Original Run“ klingt, als hätten LCD Soundsystem sechs Singles ineinander gesteckt, die schon einzeln großartig gewesen wären. Es beginnt mit einem pianogetriebenen Soulstück, das geht in ein freundliches Glockenspiel-Indiedance-Stück über. Dann wird eine Schippe draufgelegt und ein Posaunensolo setzt ein, bis eine mächtige, vocoderdominierte Italo-Disco-Variante es zum Höhepunkt führt. Mit Ambientgebrummel klingt es aus.

LCD Soundsystem: „Original Run“

Die Platte zum Geheimnis

Various sind das große Geheimnis dieses Herbstes: Niemand weiß genau, wer sich hinter dem Allerweltspseudonym verbirgt, unter dem ein Produzentenkollektiv nun sein Debütalbum „The World Is Gone“ vorgelegt hat. Man weiß, dass sie aus London kommen, man weiß, dass sie in den vergangenen Jahren ein kleines Label betrieben haben, auf dem sie allerlei 7inches in Kleinstauflagen herausgebracht haben. Das war es aber schon. Die raren Interviews, die sie gegeben haben, liefen über das Telefon und man erfuhr wenig.

Dabei ist das Konzept von Various faszinierend. Ähnlich wie das legendäre Label Shut Up And Dance, das 1995 nach knapp über dreißig Veröffentlichungen wegen des Rechtsstreits um ein ungeklärtes Sample schließen musste und damals Reggae, Hiphop, Rave und Folk zu einer neuen und aufregenden Mischung zusammenrührte, widmen sich Various Grime, Dubstep und Folk. Ihnen geht es dabei nicht etwa um eine Fusion. Sie lassen die beiden Stile schlicht nebeneinander stehen. Und (was niemand erstaunen sollte, vor einigen Tagen hieß es auf diesen Seiten ja schon einmal, dass man die Verbindungen zwischen Dubstep und Bob Dylan nicht unterschätzen sollte!): die Bassgewitter, die Various in Tracks wie „Thunnk“ durch ihre Echokammern wabern lassen, ergeben tatsächlich eine düstere Dystopie, vor der das weltverlorene Geklampfe von Songs wie „Circle of Sorrow“ oder „Deadman“ ungeahnte Wirkung entfalten kann.

Various: „The World Is Gone“ (XL-Recordings/Rough Trade)

Der Sound für zu Hause

Neues entsteht in der Popmusik ja häufig aus der Radikalisierung von Momenten des alten. Selten in den vergangenen Monaten konnte man das so schön beobachten wie auf „Yellow House“, dem neuen Album der amerikanischen Band Grizzly Bear, einer Band aus Cape Cod an der amerikanischen Ostküste. Fast jedes Stück hier kommt einem so vor, als hätte die Gruppe sich von dem „Pet Sounds“-Album der Beach Boys genau jenes Moment geborgt, an dem Brian Wilson seine Stück ins Ozeanische öffnet – und daraus ein Soundkonzept entwickelt.

Das ist natürlich gnadenlos verkürzt, genauso sind Grizzly Bear der Lofi-Ästhetik der amerikanischen Home-Recordings-Szene verpflichtet, das rumpelt und pumpelt alles mächtig. Wie es seine konkreten Referenzen aus allen möglichen Quellen speist: alten Walzern, Big-Band-Musik der Dreißiger, vieles ist wahrscheinlich schlichten Zufällen geschuldet. Doch zwischen all diesen Unaufgeräumtheiten hat jedes Stück diesen einen Augenblick, wo die Band auf ihren Turm steigt, diese Plattform betritt – nennen wir sie die „I Just Wasn’t Made For These Times“-Empore – und ihren Zauber entfaltet. Das ist niemals epigonal, im Gegenteil: bedingungslos selbständig widmen sich Grizzly Bear einem verwandten Gefühl. Der Melancholie, die es mit sich bringt, wenn man es sich in dem Verderben der eigenen vier Wände einigermaßen eingerichtet hat.

Grizzly Bear: „Yellow House“ (Warp/ Rough Trade)